Bernhard Kraak 1998, überarbeitet 2018
Eindrucksvoll Nützliches, aber auch ärgerlich Irreführendes kann sich aus der Produktion und der Rezeption wissenschaftlichen Wissens ergeben. Dafür liefert die Begabungsforschung Beispiele: Solide empirische Forschung mit verlässlichem Erkenntnisfortschritt, sogar Ergebnisse, die den „gesunden Menschenverstand“ korrigiert und dazu beigetragen haben, die „Gesellschaft gerechter zu machen; daneben Schlussfolgerungen aus empirischen Daten, die sich als Denkfehler erwiesen haben, heftige Kontroversen mit ideologischen Hintergründen und sogar Datenfälschungen eines angesehenen Wissenschaftlers.
Am gründlichsten wurde die Begabung zu geistigen Leistungen, also die Intelligenz, erforscht. Neuerdings muss man präzisieren und von kognitiver Intelligenz sprechen, weil einige Wissenschaftler auch andere als im engeren Sinne geistige Leistungen als Intelligenz bezeichnen und von sozialer (z.B. Humphrey, 1976; Orlik, 1978; Probst, 1975) oder von emotionaler Intelligenz (z.B. Salovey & Mayer, 1990) sprechen, um deutlich zu machen, dass auch soziale und emotionale Fähigkeiten zur Lebenstüchtigkeit beitragen.
Als kognitive Intelligenz wird die Befähigung zum Denken und Problemlösen aufgefasst, die sich darin zeigt, dass Zusammenhänge erkannt und Wichtiges von weniger Wichtigem unterschieden wird. Zu begreifen, worauf es vor allem ankommt, ist eine zentrale Intelligenzleistung, ganz besonders, wenn sich Menschen mit Situationen auseinandersetzen, die für sie neu sind. Dabei ist zu beachten, dass es keine Zweiteilung in „intelligent“ und „unintelligent“ gibt. Intelligenz hat viele Grade, die von geistiger Behinderung bis zu Hochbegabungen reichen. Neisser u.a. (1996), die im Auftrag der American Psychological Association über den gegenwärtigen Stand der Intelligenzforschung berichten, haben es so formuliert (77): „Individuals differ from one another in their ability to understand complex ideas, to adapt effectively to the environment, to learn from experience, to engage in various forms of reasoning, to overcome obstacles by taking thought.“ (Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, komplexe Gedanken zu verstehen, sich erfolgreich ihrer Umwelt anzupassen, aus Erfahrungen zu lernen, sich in verschiedenen Formen schlussfolgernden Denkens zu bewegen und Hindernisse durch Denken zu überwinden.)
Auch lassen sich Befähigungsschwerpunkte unterscheiden, die z.B. mehr beim Umgang mit Sprache liegen („verbale“ Intelligenz) oder mehr beim Umgang mit Zahlen und mathematischen Symbolen („numerische“ Intelligenz) (Vernon, 1961). Manche Wissenschaftler sprechen von „flüssiger“ Intelligenz, die sich bei der Bewältigung neuartiger Situationen und neuer Probleme bewährt, und „kristalliner“ Intelligenz, die die Anwendung von Erfahrung und Wissen leistet (Cattell, 1946; Horn & Cattell, 1960).
Mehr am Rande hat sich die Wissenschaft für künstlerische, insbesondere musikalische, und für sportliche Leistungen interessiert. Es kann aber angenommen werden, dass sich wichtige Ergebnisse zur kognitiven Intelligenz auf andere Befähigungen übertragen lassen. Das betrifft vor allem die grundsätzliche Frage, welche Bedingungen Intelligenz hat.
Über die Bedingungen, die zu mehr oder weniger ausgeprägten Begabungen führen, wurde lange und heftig wissenschaftlich diskutiert: „The debate was characterized by strong assertions as weIl as by strong feelings“ (Neisser et al., 1996,77). (Die Diskussion war durch starke Behauptungen und ebenso starke Emotionen gekennzeichnet.) Prototyp war auch in dieser Diskussion die kognitive Intelligenz. Lange ging es um die Frage „Anlage oder Umwelt?“, genauer um die Frage des relativen Anteils bei der Bedingungsbündel. Das war kein rein wissenschaftliches Problem. Dahinter stand die Frage, ob alle Menschen von Natur aus eher gleich ausgestattet sind oder ob sie von vornherein mit sehr unterschiedlichen Möglichkeiten ins Leben treten, privilegiert oder benachteiligt durch ihre Abstammung von mehr oder weniger befähigten Vorfahren und durch mehr oder weniger günstige Neukombinationen von Genen. Auch Pädagogen haben leidenschaftlich Stellung genommen, obwohl bei genauerem Nachdenken deutlich werden musste, dass die pädagogische Relevanz dieses Problems nicht sehr groß ist (vgl. unten).
Im Zuge dieser Diskussion über das Ausmaß der Erblichkeit von Intelligenz soll ein renommierter Forscher (Cyril Burt, 1883 -1971) Untersuchungsdaten veröffentlicht haben, von denen nach Unterlagen, die in seinem wissenschaftlichen Nachlass gefunden wurden, anzunehmen ist, dass er sie erfunden hat (Ernst, 1977), vermutlich, um frühere Ergebnisse zu bekräftigen. Allerdings gibt es auch Zweifel an diesem Verdacht. Einige Autoren vermuten, dass Burt die fraglichen Daten nicht absichtlich gefälscht, sondern sich nur eines unsorgfältigen Umgangs mit einigen seiner Daten schuldig gemacht habe, vielleicht weil er auch noch in hohem Alter neue Untersuchungsergebnisse publizieren wollte (Fletcher, 1991; Joynson, 1989; Mackintosh, 1995).
Die Ergebnisse der Diskussion können heute auf der Grundlage vieler verlässlicher empirischer Daten in folgender Weise zusammengefasst werden (z.B. Pervin, 1981,39-70; Skowronek, 1982; Weinberg, 1989; Weinert, 1994; Weiss, 1982, 87-129):
1. Begabungen haben eine genetische Grundlage, d.h. Erbanlagen spielen eine erhebliche Rolle. 2. Begabungen brauchen zu ihrer Entwicklung fördernde Umweltbedingungen, wobei der Einfluss der Umwelt zum Teil von den Erbanlagen abhängt, d.h. günstige Bedingungen sind nicht für alle Individuen in gleichem Maße und in gleicher Weise förderlich. Die Frage nach der Höhe des Anteils von Anlage und Umwelt lässt sich nicht generell beantworten. Die Antwort hängt in jedem Fall davon ab, wie groß die Unterschiede der Umwelten sind, in denen die Menschen, die verglichen werden, aufwachsen und leben. Fördern die Umwelten Begabungen in sehr unterschiedlichem Maße, relativiert sich der Einfluss der Erbanlagen. In Umwelten mit sehr ähnlich fördernden Umständen hängen Begabungsunterschiede mehr von den Anlagen ab.
Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die für einen hohen erblichen Anteil an der Intelligenzentwicklung sprachen, haben Pädagogen in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu falschen Schlussfolgerungen veranlasst. Rückblickend kann man sagen, dass diese Missverständnisse zu der damaligen Politisierung der Pädagogik beigetragen haben. Die Bewegung nahm ihren Ausgang in den USA und wirkte sich auf die Schulreformen der siebziger Jahre aus.
Die Pädagogen argumentierten, dass ihrer Arbeit der Boden entzogen wäre, wenn die Autoren, die ein hohes Maß von Erblichkeit annahmen, recht hätten. Nur wenn die aus der Umwelt herrührenden Bedingungen ausschlaggebend wären, so meinten sie, könnten pädagogische Bemühungen lohnend und erfolgreich sein. Manche äußerten die Überzeugung, dass die Forschungsergebnisse unzutreffend sein müssten. Einige unterstellten den Wissenschaftlern sogar böse Motive einer reaktionären Gesinnung, die Ungleichheit zwischen sozialen Schichten erhalten wolle.
Sie hätten sorgfältiger denken können. Für die Pädagogik ist ausschlaggebend, dass die Begabungsentwicklung eines Menschen niemals vollständig von seinen Erbanlagen bestimmt wird. Darin stimmen aber alle Forschungsergebnisse überein. Immer gibt es einen Spielraum für Umwelteinflüsse. Ob er weiter oder enger ist, es ist dieser Spielraum, der von der Pädagogik genutzt werden kann und genutzt werden muss. Darin besteht das pädagogische Ethos. Auch wenn Begabungen nicht unbegrenzt gefördert werden können, weil Erbanlagen Grenzen setzen, sind Fortschritte innerhalb dieser Grenzen die Aufgabe pädagogischer Begabungsförderung. Otto (1995, 72) zitiert einen Humangenetiker mit der Formulierung: „Optimale Förderung für jeden, aber jeder kommt irgendwann an seine Grenzen“. Das Schlagwort Heinrich Roths „Begaben statt Begabung“ bleibt eine berechtigte Forderung an die Pädagogik, auch und sogar gerade wenn die Entwicklungsmöglichkeiten nicht unbeschränkt sind.
Welches sind nun die Umweltbedingungen, von denen die Begabungsentwicklung abhängt? Die wichtigsten Bedingungen sind Motivation, also die Lust zu einer bestimmten Art von Tätigkeit, und als zweites Übung. Das gilt offensichtlich für geistige Leistungen, scheint aber auch für andere Begabungen zuzutreffen (Ericson et al., 1993; Joswig, 1995). Die Unlust zu denken – Rollett (1987) hat sie Tendenz zur Vermeidung von (geistiger) Anstrengung genannt – ist begabungsfeindlich.
Beide Bedingungen, Motivation und Übung, sind pädagogisch beeinflussbar. Dabei ist von Vorteil, dass sie sich wechselseitig beeinflussen. Die Lust an einer Tätigkeit macht Üben leichter, und Üben erhöht auf dem Weg über gesteigertes Können die Lust an dieser Tätigkeit. Allerdings besteht dieser Zusammenhang auch im unerwünschten Fall. Wo die Lust zum Tun fehlt, wird Üben zur Last, und der Erfolg bleibt aus. Das aber mindert erneut die Lust. Spontanes und systematisches Üben trägt während des ganzen Lebens zur geistigen Entwicklung bei. Sie hört nicht auf, wie viele denken, wenn Menschen erwachsen geworden sind – es sei denn, das Üben hörte auf: Die geistige Leistungsfähigkeit älterer und alter Menschen hängt in erster Linie davon ab, ob sie in Übung geblieben sind! – Auch für andere Begabungen gilt, dass Übung sowohl den Meister macht als auch die Meisterschaft erhält.
Motivation zum Üben wird unterstützt, wenn Erfolge erlebt und anerkannt werden. Wiederholen sich solche Erfahrungen und sind sie häufiger als Misserfolgserlebnisse, stärken sie längerfristig das Selbstvertrauen. Die Erwartung, mit eigenem Denken und Handeln erfolgreich zu sein, begünstigt die Entfaltung von Begabungen. Das gehört zu den gesicherten Wissens beständen der Pädagogik. Wie wichtig Selbstvertrauen ist, lässt sich am Beispiel des kognitiven Selbstvertrauens zeigen (Kraak, 1991,45,67, 84f, 102, 103f). Zu geringes kognitives Selbstvertrauen kann die Verfügbarkeit von Denkhandlungen blockieren. Wer sich nicht zutraut, sich mit einer Aufgabe oder einem Problem mit Aussicht auf Erfolg auseinanderzusetzen, wer sich für dumm, für unbegabt hält, findet keinen Denkansatz. Ausgeprägtes kognitives Selbstvertrauen dagegen mobilisiert geistige Kräfte, motiviert zu ausdauerndem Bemühen und macht auf diese Weise Erfolge wahrscheinlicher.
Das lässt sich bei mathematischen Anforderungen beobachten. Menschen, die sich für mathematisch unbegabt halten, reagieren auf solche Aufgaben hilflos. Ihnen fällt kein Gedanke ein, mit dem sie versuchen könnten, einen Einstieg, einen Lösungsansatz zu finden. Außerdem lähmt sie ihre Erwartung, versagen zu müssen, und lenkt sie ab.
Sie führt zur gedanklichen Beschäftigung mit möglichen Folgen des Versagens und verhindert dadurch die Konzentration auf die zu lösenden Aufgaben.
Zwar hängt bei allen Menschen die Entwicklung ihrer Begabungen davon ab, wie weit die Erziehung in Familie, Schule, Betrieb dazu beiträgt, Motivation und Selbstvertrauen zu fördern, und in welchem Umfang Üben zu ihrem Programm gehört. Aber Erziehung kann nicht nur Begabungen, also die Möglichkeiten zu erfolgreichem Handeln fördern, sie kann ebensoviel dafür tun, dass auch der nächste Schritt, das Handeln selbst, erfolgreich wird. Es genügt nicht, begabt zu sein und über entsprechendes Können zu verfügen. Damit Können zu Erfolgen führt, sind Sorgfalt, Fleiß und Ausdauer erforderlich. Was die psychologische Kreativitätsforschung als Bedingungen hervorragender Leistungen herausgefunden hat, gilt auch für das Gelingen unspektakulären Tuns in der alltäglichen Lebenswelt. Weisberg (1989) hat viele empirische Untersuchungen über Bedingungen kreativer Leistungen ausgewertet. Sein Fazit hat Franz E. Weinert, der das Vorwort zu Weisbergs Buch schrieb, so zusammengefasst: „Weisberg zeigt …, dass auf fast allen Gebieten menschlichen Schaffens Fleiß und Anstrengung, Zähigkeit des Denkens und Unbestechlichkeit der Urteilskraft, Beharrlichkeit im Verfolgen eingeschlagener Wege und Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen entscheidende Voraussetzung für das Hervorbringen von Werken sind, die wir als kreative oder gar geniale Leistungen bewundern.“ Hier bieten sich der Erziehung viele Möglichkeiten. Die genannten Tugenden können vorgelebt und gefordert werden. Alles Tun, das sich ihnen annähert, kann anerkannt und ermutigt werden.
Erziehung kann viel bewirken, wenn sie dort ansetzt, wo sie Chancen hat. Sie kann aber auch wirkungslos bleiben, wenn sie von Annahmen ausgeht, die nicht zutreffen. Auch dafür gibt die Begabungsforschung ein Beispiel. Vor mehr als zwanzig Jahren dachten viele westdeutsche Eltern, sie könnten Entscheidendes für die Entwicklung ihrer Kinder tun, indem sie ihnen ganz früh das Lesen beibringen. Dieses frühe Lesenlernen würde ihre Kinder intelligenter machen, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern mit langfristiger Wirkung. Eltern, hauptsächlich wohl Mütter, haben ihre Kinder geplagt, um sie das Lesen zu lehren – und haben sich selbst dabei geplagt. Nur wenige Kinder und Eltern haben vermutlich daran Spaß gehabt. Viele Eltern haben Geld für Lernmaterialien ausgegeben. Heute hört man nichts mehr davon. Die Sache ist für Eltern und Kinder, mindestens für die meisten, zu einem Fehlschlag geworden.
Die Massenbewegung zum Frühlesenlernen kam in Gang, weil einige Wissenschaftler, vor allem zwei deutsche Psychologie-Professoren, als Forschungsergebnis mitteilten, frühes Lesenlernen mache Kinder intelligenter und verschaffe ihnen einen Vorsprung fürs Leben. Die Medien griffen diese Information auf und verbreiteten sie. – Die Professoren handelten leichtfertig, aber auch die Eltern, die ihnen glaubten, machten Fehler. Sie nahmen für bare Münze, was sie durch die Medien erfuhren und was als wissenschaftliche Erkenntnis ausgegeben wurde. Sie informierten sich nicht darüber, wie breit die Erfahrungsbasis war, auf der die Aussagen der bei den Professoren beruhte. Der eine zitierte einen kanadischen Wissenschaftler, der fünf Kinder beobachtet hatte, der andere berichtete über eine eigene Untersuchung an kaum mehr Kindern. Wie stichhaltig, abgesehen von dem sehr geringen Umfang der Stichproben, die Beobachtungen waren, wurde von ihnen nicht diskutiert. Auch in der Öffentlichkeit wurde wenig nachgefragt.
Natürlich ist es für Nicht-Wissenschaftler schwierig, sich ein Urteil über die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Informationen zu bilden. Selbst Wissenschaftler haben damit nicht selten Probleme. (Es gibt aber Literatur, die Wege zeigt: Eckerle, 1983; Gitovich, 1991; Kraak, 1978; Roberts & Rost, 1974.) Fragen, die oft relevant sind und gestellt werden sollten, lauten: Wurde über vergleichbare Untersuchungen berichtet? Wie viele waren das? Stimmten die Ergebnisse im wesentlichen überein? – Hatten die Stichproben einen größeren Umfang und waren sie nicht einseitig ausgewählt? Solche Fragen machen Mühe. Die Energie, sie trotzdem zu stellen, kann aus einer grundsätzlichen Haltung gegenüber Forschungsergebnissen entspringen. Man soll wissenschaftlichen Aussagen ebenso viel Skepsis entgegenbringen wie Aussagen, die aus der Lebenserfahrung entspringen. Das gilt ganz besonders für Forschungsergebnisse, die als „das Neueste aus der Wissenschaft“ in Medien verbreitet werden. Das Neueste ist wenig erprobt und wenig diskutiert. Man sollte es nicht eilig haben mit seiner Anwendung. – Diese Empfehlung gilt dann nicht, wenn wissenschaftliche Informationen auf akute und ernsthafte Gefahren hinweisen. Dann ist es richtig, das Risiko eines Schadens nicht einzugehen und lieber das andere Risiko in Kauf zu nehmen, dass die Informationen nicht zutreffen und man später feststellt, dass man unnötig vorsichtig war.
Im ersten Fall wurden falsche Schlussfolgerungen von den potentiellen Anwendern wissenschaftlicher Ergebnisse gezogen. Im zweiten Fall waren es die Wissenschaftler selbst, die wichtige Zusammenhänge nicht erkannten. Dieser zweite Fall macht deutlich, wie leicht wissenschaftliche Daten in die Irre führen können, wenn man nicht sorgfältig genug bedenkt, wie sie zustande gekommen sind. (Das gilt natürlich erst recht für nichtwissenschaftliche Beobachtungen!)
Um Aufschlüsse darüber zu erhalten, wie sich die Intelligenz im Laufe des Lebens entwickelt, hat man größere Stichproben von Menschen unterschiedlichen Lebensalters mit Intelligenztests untersucht. Dabei stellte man fest, dass die Leistungen im Durchschnitt im zweiten Lebensjahrzehnt am höchsten waren und danach kontinuierlich, wenn auch nicht dramatisch, abfielen. Daraus schloss man, dass die geistige Begabung in der Jugend wächst und spätestens nach der Mitte des Lebens abnimmt; also: Älterwerden macht allmählich dümmer. Eine Zeitlang konnte man entsprechende Ausführungen in Lehrbüchern der EntWicklungspsychologie lesen. Bis man entdeckte, dass der Vergleich von unterschiedlich alten Jahrgängen, sogenannten Kohorten, nicht gleichzusetzen ist mit der Entwicklung derselben Personen über Jahre und Jahrzehnte. In vielen Ländern haben nämlich in den letzten Jahrzehnten die durchschnittlichen Leistungen in Intelligenztests von Generation zu Generation zugenommen. Als Ursache wird vermutet, dass in diesen Ländern immer mehr Menschen immer länger schulisch gebildet werden. Den jüngeren Jahrgängen gehören daher mehr Menschen mit längerem Schulbesuch an. Da mehr Schulbildung die geistige Begabung fördert (Ceci, 1991), vor allem durch die größere Übung in geistigen Handlungen, wurde Jahrgang für Jahrgang im statistischen Durchschnitt etwas „begabter“, leistete also mehr in den Intelligenztests (Azar, 1996). Die älteren Jahrgänge leisteten also nicht deshalb weniger, weil ihre Begabung abgenommen hatte, sondern weil sie nie so gut entwickelt worden war wie bei den jüngeren.
Bei den Jahrgängen der 60- bis 70-jährigen und noch älteren Stichproben verschlechterten sich zudem die Durchschnittsergebnisse durch die starke Individualisierung der geistigen Entwicklung schon im mittleren, vor allem im hohen Lebensalter. Manche steigern ihre Leistungsfähigkeit bis in ein hohes Alter, viele erhalten sie sehr lange, andere aber büßen Fähigkeiten ein, manche nur geringfügig, einige aber auch in höherem Maße.
In Zukunft wird sich die gemessene Begabung der verschiedenen Lebensalter vermutlich weiter angleichen, weil die Konzentration der Bildungsangebote auf die Jugendphase und die Phase des ersten Berufsaufbaus aufgegeben wird zugunsten eines lebenslangen Lernens. Die Beschleunigung der Wissensentwicklung und damit der Veränderung der beruflichen Umwelten erzwingen diesen tief greifenden Einschnitt in vertraute Sozialisationsmuster und werden den biografischen Ort von (Schul-) Bildung relativieren.
Hauptursache der beobachteten Schere bei der Intelligenzentwicklung mit fortschreitendem Lebensalter ist das unterschiedliche Ausmaß geistiger Übung. (Einfluss hat daneben auch die Gesundheit. Das Folgende gilt daher mehr für körperlich gesunde alte Menschen.) Wer hoch motiviert bis ins höchste Alter geistig arbeitet, in Beruf oder Freizeit viel nachdenkt, Probleme löst und immer wieder Neues lernt durch „lebenslanges Lernen“, also durch kontinuierliche Weiterbildung, erfährt keine Einbuße seiner geistigen Fähigkeiten. Das Leistungsniveau bleibt erhalten. Leistungskomponenten können sich aber verändern. Bei vielen Menschen lässt „flüssige“ Intelligenz, die schnelle und findige Reaktion auf neue Situationen und Anforderungen, nach, wird aber im günstigen Fall durch die weiter ausgebaute „kristalline“ Intelligenz, d.h. durch den umsichtigen Einsatz von Erfahrung und Wissen, insbesondere auch von Urteilsstrategien, kompensiert.
Jahrhunderte lang galt es als selbstverständlich, war es eine Überzeugung gesunden Menschenverstandes, dass Männer in fast jeder Hinsicht begabter seien als Frauen. Von Frauen wurden hervorragende geistige, künstlerische, politische oder sportliche Leistungen nicht erwartet. Auch heute bilden sich manche Männer noch ein, dass ihr Geschlecht generell das begabtere wäre. Aber es ist ihnen nicht mehr möglich, diesen Standpunkt in öffentlichen Diskussionen zu vertreten. Dabei war er noch vor weniger als hundert Jahren Grundlage für gesetzliche Regelungen, etwa des Zugangs zu Bildungseinrichtungen. Zu diesem Wandel des öffentlichen Bewusstseins hat die psychologische Begabungsforschung entscheidend beigetragen (ein kurzer Bericht bei Jacklin, 1989, 127). Diese Forschung hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch umfangreiche Vergleichsuntersuchungen überzeugend empirisch nachgewiesen, dass mindestens im Bereich geistiger Leistungen Frauen den Männern nicht unterlegen sind. Es gibt zwar bestimmte geistige Anforderungen, die üblicherweise in Intelligenztests gestellt werden, in denen Frauen durchschnittlich etwas weniger und Männer durchschnittlich etwas mehr leisten, aber es gibt andere Anforderungen, bei denen Frauen besser abschneiden. Männer sind zum Beispiel besser, wenn es um räumliches Vorstellen geht. Frauen sind besser bei sprachlichen Anforderungen. Ob diese Unterschiede wirklich biologisch mit dem Geschlecht zusammenhängen, also anlagebedingt sind, kann man noch nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin haben sich diese Unterschiede in den letzten Jahrzehnten verringert. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sozialisationsbedingt sind, also mit der Angleichung von Lebensweisen der Geschlechter weiter zurücktreten werden.
Die beruflichen und politischen Chancen von Frauen sind immer noch geringer als die der Männer, aber sie können dank wissenschaftlicher Ergebnisse nicht mehr mit schwächerer Begabung gerechtfertigt werden. Wissenschaft hat auf diese Weise geleistet, was ihre wichtigste Aufgabe ist: Unsere Vorstellungen über die Wirklichkeit der Wahrheit anzunähern. Damit hat sie auch Argumente für gerechtere Lösungen eines gesellschaftlichen Problems bereitgestellt.
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