Enrichment
Der Begriff des Enrichment stammt von Joseph S. Renzulli, dem amerikanischen Nestor der Hochbegabtenpädagogik. Im Jahr 2002 ist Renzullis Schoolwide Enrichment Model in der Schweiz auf Deutsch erschienen. Hier finden sich alle Hinweise, die Lehrerinnen und Lehrer brauchen, um ihren Enrichment-Angeboten eine Form zu geben, von der ihre Schülerinnen und Schüler profitieren. (Renzulli, Reis, Stedtnitz, 2003. Das Schulische Enrichment Model SEM. Aarau: Sauerländer) Die Grundgedanken für die Strukturierung und Beurteilung von Enrichment-Angeboten sind nach Renzulli die folgenden:
- Enrichment findet auf der grundlegenden Stufe als Öffnung von Erfahrungsmöglichkeiten statt. Selbstgewählte Handlungsfelder, die im schulischen Rahmen auch von Eltern oder Akteuren in der Region angeboten werden können, locken die Kinder in Themen, die sie spielerisch-handelnd erforschen dürfen.
- In der nächsten Stufe folgt nicht die Lehre der Wissensfelder, die den Handlungsfeldern entsprechen, sondern die Entwicklung einer metakognitiven Ebene des Denkens, von der aus Denkhandlungen ausgewählt und zielgerichtet eingesetzt werden können. Diese Denkhandlungen sollen explizit begrifflich erfasst werden. Sie lassen sich systematisch vergleichen nach Verschiedenheit, Abstraktionsniveau und Schwierigkeitsgrad. Die Entwicklung der Metakognition entspricht dem, was oben als Struktur/Strukturierung von Enrichment-Angeboten bezeichnet wurde: Das Wissen trifft auf die Handlungsfähigkeit des Denkens (im Amerikanischen: Critical Thinking; vgl. unter grundlegende Texte „Kritisches Denken“). Renzulli beschreibt seine Theorie so:
„Während man sich auf der höchsten Ebene, den grundlegenden Theorien und Strukturen, bewegt, sollten die niedrigeren Ebenen immer wieder angesprochen werden. Auf diese Weise können Fakten, Trends und zeitliche Abfolgen und die übrigen Ebenen in Bezug auf ein integriertes Ganzes verstanden werden und nicht einfach als isolierte Brocken irrelevanter Informationen. Des Weiteren sollte der Prozess des Wissenserwerbs an sich – der auch oft als „Denkfertigkeit“ beschrieben wird – ebenfalls als eine Art Lerninhalt betrachtet werden. Diese nachhaltigen Fertigkeiten charakterisieren die kognitiven Strukturen und Problemlösefertigkeiten, die das größte Potenzial für den Transfer von Gelerntem zu anderen Bereichen aufweisen.“ (Das Schulische Enrichment Modell SEM, S. 38)
- In der dritten und letzten Stufe wird Enrichment als selbständig forschende Projektarbeit verstanden, die von den Kindern und Jugendlichen einzeln oder in Kleinstgruppen durchgeführt wird. Die zweite Stufe ist eine notwendige Voraussetzung, um die dritte zu bewältigen.
„Schlechtes“ Enrichment
Das Institut für Leistungsentwicklung hat früher im Rahmen seines Igel-Kollegs eigene Seminare angeboten. Da inzwischen eine Vielzahl von Trägern Enrichment-Angebote vorhält und diese zum Teil auch kommerziell auf formell gemeinnütziger Basis eingesetzt werden, hat sich unser Institut aus diesem Feld zurückgezogen. Die folgenden Hinweise werden gegen die ausufernden Zusatzangebote für hochbegabte Kinder gegeben. Sie richten sich nicht grundsätzlich gegen Enrichment, sondern setzen Kriterien zur Unterscheidung von gutem und schlechtem Enrichment. Gutes Enrichment verbessert die Lernfähigkeit, schlechtes erhöht das Risiko für gedankliches Chaos („Kognitiver Bauchladen“). Enrichment ist die meist angebotene Fördermaßnahme für hochbegabte Kinder und Jugendliche. Daher ist es besonders wichtig, dass ganz klar ist, was unter Enrichment zu verstehen ist – und was lediglich eine Kindervolkshochschule am Nachmittag ist. Leider ist mit der begrüßenswerten Aufmerksamkeit für die Problematik der Hochbegabung auch eine Fülle von Kursangeboten entstanden, die besorgte Eltern zu einer Form von Bildungstourismus verführen und Lehrerinnen und Lehrern vortäuschen, dass die Erweiterung des Lehrangebots am Nachmittag eine mögliche Kompensation sei für den fehlenden begabungsdifferenzierenden Unterricht am Vormittag. Enrichment kann hochbegabte Kinder nachhaltig fördern, es kann aber auch die ohnehin vorhandene Tendenz dieser Kinder zum kognitiven Chaos verstärken. Enrichment in Renzullis Denkumgebung ist dem pädagogischen Denken in der deutschen Hochbegabtenförderung sehr fremd, obwohl der identische Begriff und sein Prestige unwissend übertragen werden. Der Mangel an erziehungswissenschaftlicher Forschung in diesem Bereich ermöglicht Seminarveranstaltern, ihre Angebote mit selbst gegriffenen Plausibilitäten zu begründen und damit Gehör zu finden, so etwa die Vorsitzende des Vereins Hochbegabtenförderung, Jutta Billhardt: „Pferde, die schneller rennen, brauchen mehr Futter“. Das ist aber offensichtlich ein Satz aus der Tierhaltung, nicht aus der wissenschaftlichen Didaktik. Futter landet im Magen, Kursangebote im Kopf. Und dessen Verdauungssystem heißt Struktur. Was geschieht, wenn diese Struktur nicht vorhanden ist? Dass die Risiken eines falschen Enrichment kaum erkannt werden, liegt daran, dass die Kurse zunächst (fast) immer motivierend wirken; die hoch begabten Kinder fühlen sich ernst genommen, treffen ihresgleichen und haben ein Thema, für das sie sich selbst entschieden haben. Diese positive Gestimmtheit verführt zu der Annahme, das teilnehmende Kind werde gerade gefördert. Doch: Wenn das Seminar vorbei ist, was bleibt? Was wäre denn Förderung gewesen? Nach dem Theoretiker des Enrichment: Die Entwicklung von Strukturen des Denkens. Doch die sind nach einem weiteren schlecht integrierten Wissensfetzen oft noch weiter entfernt als zuvor. Als Faustregel gilt: Wer viel Information aufnimmt, braucht viel Struktur, um sie zu ordnen, zu bewahren und zu nutzen. Ohne Struktur des Gedächtnisses und des Denkens führt Informationsfülle zur geistigen Unordnung.
Beispiel zu „Struktur“
Was unter „Struktur“ zu verstehen ist, wird oben unter „Gutes Enrichment“ von Renzulli erläutert. Zur Veranschaulichung hier noch eine gelungene Aufgabe, die der berühmte Denkpsychologe Jerome S. Bruner (Entdeckendes Lernen) einer Klasse gestellt hat. Die Kinder sollten die großen Städte der USA in eine geografische Karte eintragen. Als keine näheren Hilfen geboten wurden, blieben sie ohne Namen und Ortsangaben mit ihrem Denken allein. Sie sahen sich also genötigt zu überlegen, wo denn große Städte hätten entstehen können – sie machten sich also Gedanken über die Ziele menschlichen Siedlungsverhaltens. Nach den ermittelten Kriterien trugen sie die Städte ein, etwa an Flussmündungen, in Ebenen … . Danach hätten sie große Städte in beliebigen Erdteilen eintragen können (generische Wirkung von Strukturen) und sicher ist ihnen die Lage der großen Städte in Erinnerung geblieben (Gedächtniswirksamkeit von Strukturen).
Hiho, schöner Artikel zu diesem Thema. In dem Aufbau meiner Arbeit bin ich auf der Suche nach neuen Informationen. Dank Menschen wie euch komme ich meinen Zielen immer ein Stück weiter.