Ethik und Hochbegabtenförderung

Ethische Aspekte der Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen

 Anne und Thomas Eckerle                                   2003, noch immer hoch relevant, überarbeitet 2017

Am Anfang steht: den Hilfebedarf erkennen

Verführung durch Plausibilität

Das Problem scheint offensichtlich. Hochbegabte Kinder werden in Klassen mit breitem Leistungsspektrum nicht angemessen gefördert. Offensichtlich ist das im wörtlichen Sinn, insofern man es sieht. Nicht offensichtlich ist, woran es liegt. Die pädagogische Plausibilität weiß zwar: Es liegt daran, dass Lehrer bei leistungsheterogenen Gruppen einen Standard setzen müssen, um lehren zu können. Den Standard setzen sie bei der Mitte und vernachlässigen so die beiden Enden. Hochbegabte Kinder erhalten daher nicht die Herausforderungen, die sie brauchen, um ihr Potential zu entwickeln. Aber diese Plausibilität ist der bestehenden Praxis abgesehen. Stimmt sie? Ein „Nein“ gegenüber Plausibilitäten verletzt Denkgewohnheiten und verleitet zu der Annahme, dass wer es ausspricht von Praxis wohl nichts versteht – womit das Bestehende seine eigene Wahrheit durchsetzt. Es sei hier vorweggenommen: Die Erziehungswissenschaft widerspricht der Plausibilität.

Eine ältere, aber wegen ihrer Zusammensetzung hoch signifikante Expertendiskussion aus dem Jahr 2002 zeigt, welche Folgerungen und Forderungen sich aus der unzutreffenden Plausibilität ergeben  –  und nach unserer Erfahrung ausch die gegenwärtige Entwicklung der Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen noch bestimmen.

Die Expertendiskussion fand auf Einladung des Vereins „Hochbegabtenförderung“ statt. Diskutanten waren ein Landtagsabgeordneter der CSU, Prof. Dr. Walter Eykmann; der Schulleiter eines Gymnasiums, das damals mit zwei Hochbegabtenklassen gestartet ist, Armin Hackl; die damalige Vorsitzende des Vereins Hochbegabtenförderung (HBF), Jutta Billhardt; der frühere Beauftragte für Hocbegabte des Hessischen Kultusministeriums, MinR Walter Diehl; schließlich Dr. Wolfgang Schneider, Professor der Psychologie in Würzburg und Mitglied des Deutschen PISA-Konsortiums.

Unsere pädagogische Plausibilität stand am Anfang der Diskussion und wurde nachfolgend von den meisten Diskutanten als gültiges Wissen vorausgesetzt. Die Vereinsvorsitzende Jutta Billhardt verknüpfte sie mit der Frage der Gerechtigkeit und gab damit das Stichwort, dem die Runde folgte. Hochbegabte hätten Anspruch auf Förderung. Man solle, so führte Billhardt aus, bereits in die Schuleingangstests Elemente von Intelligenztests aufnehmen und bei Normabweichung einen vollständigen Test durchführen. Man wisse dann rechtzeitig, wer gefördert und der Orientierung an der Mitte entzogen werden müsse. Eine gerechte Bildungspolitik müsse sich dieser Kinder annehmen. In den Gymnasien säßen zum Teil „geistige Hauptschüler“ das sei ungerecht. Solche Ungerechtigkeit werde auf die Spitze getrieben mit der Forderung, die hochbegabten Kinder in den Regelklassen zu belassen, damit sie die weniger begabten anregen könnten. Das komme einem „Benutzen“ der Kinder gleich, man dürfe aber Menschen nicht benutzen. Als Weg, Gerechtigkeit zu stiften und die Kinder dem Standard der Mitte zu entziehen, wurde der Plausibilität folgend die Notwendigkeit zur Separierung angenommen – in speziellen Klassen, wie in dem Würzburger Gymnasium seit zwei Jahren der Fall, oder in speziellen Schulen, wie z.B. im Jugenddorf Christopherus in Braunschweig, Königswinter und Rostock.

Das sind schwerwiegende Forderungen, die auf der eingangs gesetzten pädagogischen Plausibilität aufbauen und mit Billhardts Gerechtigkeitsargument bezogen auf die Ethik zugespitzt werden. Gerechtigkeit ist ein moralisch zwingendes Argument, das in der bildungspolitischen Debatte über Hochbegabung Durchsetzung verlangen würde. Wieder drängt sich die Frage auf: Stimmt das mit der Gerechtigkeit? Wie steht es mit der Gerechtigkeit, wenn Hochbegabte gefördert werden? Bis in die neunziger Jahre wurde eine Förderung von hochbegabten Kindern weithin unter dem gesellschaftskritischen Aspekt der Eliteförderung gesehen. Hochbegabte wurden als hochleistende Kinder gesehen, ihre Förderung als Privilegierung der Privilegierten aufgefasst und daher die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln als ungerecht angesehen. Abweichende Stimmen kamen aus dem konservativen Lager, haben sich aber nicht durchgesetzt.

Heute werden hochbegabte Kinder unter dem Gleichheitsaspekt als benachteiligt angesehen. Sie leiden unter der Schule, sind zum Teil sogar in ihrer Entwicklung ernsthaft gefährdet. Die unentrinnbare Langeweile, beginnend im Kindergarten und über die gesamte dreizehnjährige Schulzeit sich dehnend, führt bei einem Teil der Kinder zu Konflikten mit Erziehern und Lehrern, die sie und ihre Familie dramatisch belasten können. Fehlentwicklungen wie Lernverweigerung, Verhaltensstörungen und soziale Ausgrenzung können die Folge sein und sind es in einem nennenswerten Teil der Fälle (je nach Grenzziehung bei leichten oder ausgeprägten Störungen zwischen 15 und 25 %). Solches sogenanntes Underachievement, die erwartungswidrige Niedrigleistung von hochbegabten Schülern in Kombination mit Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, entsteht aus Unterforderung und ist eine Konsequenz der Unfähigkeit von Schulen, den Bedürfnissen dieser Kinder zu entsprechen.

Diese Umkehr der Sichtweise von Privilegierung zu Benachteiligung ist ein Fortschritt. Hier ist wichtige Überzeugungsarbeit geleistet worden, der Erkenntnisse über den möglichen Zusammenhang von Hochbegabung mit Schulschwierigkeiten und nachfolgenden Verhaltensstörungen zugrunde liegen. Ein Rückschritt aber liegt in der Funktion, die diesen Erkenntnissen eingeräumt wird. Trotz der Umkehr der Sichtweise trieb die Würzburger Diskussion in das gleiche ideologische Dilemma von Gleichheit oder Differenzierung, von sozialem Ausgleich oder Spitzenförderung, von breiter Bildung oder Exellence, das seinerzeit die Gemüter erregt hatte, als noch die Eliteförderung verdammt wurde. Nur positionierte sie sich jetzt auf der anderen Seite. Ist denn nicht klar, dass die Polarisierung dieser Ziele von vornherein ethisch unhaltbar ist? Anlass genug, die Sache, nicht zuletzt im Hinblick auf die Ethik, noch einmal zu durchdenken und zu prüfen. Unsere These ist, dass dem vermeintlichen Dilemma zu viel der Ehre erwiesen wird, dass es sich dabei nur um einen Artefakt handelt, der durch nachlässiges Denken und Informationsabstinenz zustande gekommen ist.  

Das Gerechtigkeitsargument

Geistige Hauptschüler gehören nicht in das Gymnasium; es ist ungerecht, dass sie den Hochbegabten die Zeit der Lehrer fortnehmen. In diesem Gerechtigkeitsargument sind Vorstellungen und Annahmen enthalten, die seine Plausibilität stützen. Diese offenzulegen, ist die Voraussetzung für eine Diskussion des Arguments. Gerecht wäre der vorrangige Anspruch der Hochbegabten auf die Zeit der Gymnasiallehrer, wenn zwei Annahmen zuträfen:

Annahme 1: Die Förderung von hoher Begabung setzt das voraus, was Gymnasiallehrer von anderen Lehrern unterscheidet; daher brauchen hochbegabte Schüler Gymnasiallehrer.

Annahme 2: Die Förderung von mittlerer Begabung ist in ihrer Effizienz nicht zu steigern durch das, was Gymnasiallehrer von anderen Lehrern unterscheidet; daher ist zu verantworten und zu fordern, „geistige Hauptschüler in Gymnasien“ den Hauptschullehrern zuzuführen.

Die Bestimmung dessen, was Gymnasiallehrer von anderen unterscheidet, führt mitten hinein in schulpädagogische Ideologie. Mit der Standardantwort „Vertieftes fachliches Wissen und weniger pädagogisch-psychologische Kompetenz“ folgt man zunächst der Verteilung der Ausbildungszeiten über die Fachgebiete, deren politische Festsetzung ja ihrerseits auch auf Willenserklärungen über die Aufgaben der Lehrämter beruhen. Tatsächlich wissen Gymnasiallehrer weniger über ihre Schüler als Hauptschullehrer. Sie wenden ihre Aufmerksamkeit – über die große Zahl ausgesagt – mehr den Inhalten zu als den einzelnen Schülern. Dabei bleibt der Lernprozeß selbst oft unscharf und implizit. Während ein Hauptschullehrer bei Strafe des Mißerfolgs für eine klare Struktur seiner Lernangebote und seiner Leistungseinforderungen Sorge tragen muß – sonst erreicht er seine Schüler nicht – kann ein Gymnasiallehrer darauf setzen, dass die Schülerinnen und Schüler seine Fragen und Aufgaben aus ihrem Kontext und der schulischen Routine heraus ungefähr richtig deuten und bearbeiten können. Unstrukturiertheit führt nicht unmittelbar zu mißlingender Kommunikation und Lernunfähigkeit, sondern wird von den meisten Schülern kompensiert.

Dies hat zur Konsequenz, dass die didaktischen Themen des Gymnasiums sich weniger als die der Hauptschule unmittelbar mit den Vorgängen des Lernens auseinandersetzen. Hochbegabte Kinder brauchen aber nicht nur anspruchsvolle Inhalte, sondern in bestimmter Hinsicht das gleiche wie schwächer begabte, nämlich Eindeutigkeit bei den Arbeitsanweisungen und Struktur bei den Inhalten. Dieses Bedürfnis kollidiert mit dem unbekümmerten Umgang des Gymnasiums mit den Lernprozessen der Schüler und kann zu unerwünschten Folgen führen: Mißverständnisse, Ausweitung oder Problematisierung der Inhalte in nicht gemeinte Richtungen. Die implizite Annahme des Gerechtigkeitsarguments erweist sich als irreführend. Gymnasiallehrer haben zwar mit einer vertieften fachlichen Ausbildung eine hilfreiche Voraussetzung zur Förderung von Hochbegabten, aber daraus ergibt sich keine berufstypische Eignung zur Förderung von Hochbegabten, weil die lernpsychologischen Anforderungen zu schwach erbracht werden. Vermutlich büßen mäßig begabte Schüler (die „geistigen Hauptschüler“ des Gymnasiums) auch nichts ein, wenn sie nicht von Gymnasiallehrern gefördert werden; im Gegenteil könnten ihnen strukturierungserfahrene Hauptschullehrer sogar nützen.

Die wesentliche Antwort auf Billhardts Gerechtigkeitsargument liegt daher in folgender Feststellung: Die zur Förderung von hochbegabten Kindern notwendigen Kompetenzen sind bei den Lehrämtern für Gymnasien und für Hauptschulen polarisiert gegeben. Bei den Gymnasiallehrern fehlt ein Grundverständnis der kognitiven Prozesse und die Fähigkeit, die Analyse einer Aufgabe statt auf dem kumulativ vorausgesetzten Wissen auf ihren kognitiven Handlungsanforderungen aufzubauen. Hochbegabte brauchen nicht Aufgaben, die mehr Wissen voraussetzen, sondern Aufgaben, die ihnen Komplexität, Systematik und Ausdauer, unkonventionelle Transfers und problemlösendes Denken abverlangen. Ein breites fachliches Wissen nützt zur Förderung von Hochbegabten wenig ohne die Theorie des Faches und die Fähigkeit zu klarer Strukturierung und Reduktion auf transferierbare gehaltvolle Exempel. Leider nimmt die fachwissenschaftliche Ausbildung der Gymnasiallehrer gerade diese Aspekte der Lehrbarkeit des Fachlichen und der Fachtheorie nur widerwillig auf.

Hinweis: Die „Theorie des Faches“ wird in der deutschen Pädagogik meist als das Dach, nicht als Basement eines Faches angesehen, eine Auffassung, die der hier üblichen Polarisierung von Theorie und Anschauung folgt. In der amerikanischen Erziehungswissenschaft wird mit Dewey und Bruner die wissenschaftliche Struktur des Faches als ermöglichende Voraussetzung der Lehre und – für uns besonders befremdlich – als Ausgangspunkt selbständiger Arbeit der Schüler angesehen. Der wissenschaftspropädeutische Ansatz der Bildungsreform der siebziger Jahre war in diesem Punkt ein Rezeptionsversuch der amerikanischen Curriculum-Theorie, der geforderte Theoriebezug wurde aber schon bald als Forderung nach wissenschaftsnahem Wissen fehlinterpretiert und in der Folge als erledigt betrachtet. Die schwierige Aufgabe der Lehrer, Arbeitsprozesse und Lehrinhalte klar zu strukturieren, könnte aus der ursprünglichen Theorie der großen Bildungsreform der siebziger Jahre entscheidende Hilfen erhalten. Vgl. hierzu Eckerle, Gudrun-Anne, 1977. Zur Geschichte der wissenschaftlichen Grundbildung. In: Neue Sammlung, 17, S. 434 – 449. Hier wieder verfügbar

In der Diskussion kam ein weiteres Argument zur Sprache, das die von Billhardt vorgetragene Gerechtigkeitsforderung relativierte; es bezieht sich nicht nur auf das individuelle Recht aller Kinder auf Förderung, sondern berührt auch das gesellschaftliche Interesse an der Förderung von Begabungen unterhalb der Hochbegabung: Prof. Schneider skizzierte sein „Schwellen-Modell“, nach dem eine gute Begabung oberhalb eines IQ von 115 Punkten (Hochbegabung beginnt der Konvention nach mit 130 Punkten) in Kombination mit weiteren Persönlichkeits-merkmalen und sozialen Umständen die Bedingung für Lebenserfolg ist. Die Entfaltung von intellektueller Begabung hängt von komplexen Bedingungen ab und ist nicht zureichend gefördert, wenn die intellektuelle Herausforderung angepasst wird. Hochbegabte seien daher unter jenen Menschen, die herausragende Lebensleistungen erbringen (Nobelpreis, Vorstandsvorsitz von großen Unternehmen), auch nicht überzufällig vertreten. Ergänzend kann man auf vielfältige Indikatoren aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung hinweisen, etwa darauf, dass in der Bundesrepublik bis heute das soziale Niveau des Elternhauses (Förderung) wirksamer als die Intelligenz des Kindes ist, um das Abitur zu erreichen. Oder dass Forschungen in den USA gezeigt haben, dass die Fähigkeit zum Zeitmanagement (förderungsabhängig) mit dem College-Erfolg höher korreliert als die intellektuelle Befähigung. Hochbegabte sind also nicht nur in der Schule nicht immer Hochleistende, sondern auch ihre Biografien weisen sie nicht als für die Elite prädestiniert aus. Umgekehrt ist der Lebenserfolg der gut, aber nicht hoch Begabten besonders abhängig von Förderung. Sowohl nach ihrem individuellen Recht als auch nach vorauszusetzendem gesellschaftlichen Interesse ist die bestmögliche Förderung der gut Begabten gleich wichtig wie die der hoch Begabten. Was macht man mit „geistigen Hauptschülern“ angesichts solcher kausaler Gemengelagen? Glücklicherweise sind wir nicht in einem Dilemma von Gleichheit oder Differenzierung, weil die Fragestellung, die sie vermeintlich begründet, falsch ist. Es gibt keine Alternative zu entscheiden. Wir haben es hier mit einem praktischen Problem des Wissenstransfers und der Unterrichtsveränderung zu tun, nicht mit Zwängen, die in ethische Dilemmata führen.

Das Argument: Orientierung an der Mitte verhindert angemessene Förderung

Erziehung und Unterricht haben ermöglichende Funktion. Sie müssen das möglich machen, was sie an Zielen fordern. Wenn alle Kinder entsprechend ihren Begabungen bestmöglich gefördert werden sollen, dann muß entweder gefragt werden,

  • ob ein Unterricht möglich ist, der für alle fördernd wirkt; oder:
  • ob es verschiedene Unterrichtsweisen (nicht Lehrämter) gibt, die jeweils bestimmte Zielgruppen besonders gut fördern, ohne zugleich andere zu benachteiligen.

Diese Ausgangsfragen des verantwortbaren Unterrichts haben beispielsweise Franz Weinert und Andreas Helmke untersucht: Kann man starke und schwache Schüler im gleichen Unterricht fördern? – Die Antwort war ein eindeutiges Ja. Der Weg dahin ist ein besonders klar strukturierter, transparenter Unterricht, in dem alle Durchblick haben, wovon die Rede ist und worauf hin gearbeitet wird. Ergebnis war aber ebenso, dass Lehrerinnen und Lehrer diesen sorgfältig strukturierten Unterricht selten geben, dass er zeitlich und intellektuell anspruchsvoll ist und auch mit der Art und Weise, wie in Deutschland offener Unterricht und Selbsttätigkeit verstanden werden, in Widerspruch geraten kann.

(Helmke, A. (1988). Leistungssteigerung und Ausgleich von Leistungsunterschieden in Schulklassen: Unvereinbare Ziele? Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 10, 45-76. Nachgedruckt in K.-J. Tillmann (Hrsg.), Was ist eine gute Schule? (S.77-94). Hamburg: Bergmann und Helbig)

Hier haben wir es mit dem gleichen Problem wie bei dem Gerechtigkeitsargument zu tun. Die Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen ist an die Strukturierungsfähigkeit der Förderer gebunden. Und diese korreliert nicht mit dem Anspruchsniveau der fachlichen Ausbildung. Ein weiterer Hinweis auf förderungstaugliche Unterrichtsweisen kam von Walter Eykmann, als er darauf aufmerksam machte, dass hochbegabte Kinder nicht nur Stoffanreicherung brauchten, sondern die Entwicklung ihrer Denk- und Arbeitsweisen. Wege zu solchen Unterrichtszielen findet man unter verschiedenen Oberbegriffen, etwa Metakognition, Self-Monitoring und Problemlösen in der Psychologie, in der Pädagogik unter Wissenschaftspropädeutik, Formalziele und neuerdings, zum Teil ganz praxistauglich kleingearbeitet, unter Denkstrategien und Lerntechniken, in der amerikanischen Erziehungswissenschaft unter Critical Thinking.

Mehrfach wurde in der Podiumsdiskussion auch auf die Notwendigkeit der individualisierenden Förderung von hochbegabten Kindern hingewiesen, was natürlich auch für den Unterricht in Spezialklassen für Hochbegabte gilt. Hier bietet die Psychologie der Leistungsmotivation (Lewin, Atkinson, Heckhausen, Rheinberg) ein wertvolles Instrument, sowohl um die individuelle Lernsituation (z.B. den fachlichen Entwicklungsstand und das persönliche Anspruchsniveau, die Erfolgsgewißheit oder die Mißerfolgsängstlichkeit, Typik der Folgenerwartungen) zu beschreiben als auch deren Elemente gegeneinander auszubalancieren und insgesamt zu entwickeln. Sie bildet ein wichtiges Gelenk zwischen der Theorie der Intelligenz und der Erklärung von Verhaltensproblemen.

Gut erreichbar: Rheinberg, F. & Krug, S. (1999). Motivationsförderung im Schulalltag (2. Auflage). Göttingen: Hogrefe. (1. Auflage 1993)

Gehen wir zurück in die Pädagogik des 19. Jh. dann finden wir die Suche nach den fördernden Unterrichtsstrukturen, etwa in der Pädagogik der Formalstufen, in der Katechetik und Sokratik des Lehrens und Lernens. Psychologische Fachbücher für Lehrerbildungsseminare des 19. Jahrhunderts zu lesen, nimmt Lehrerinnen und Lehrern viel von der Annahme, die Wissenschaft tauge nicht und sie seien auf sich selbst angewiesen. Eine Orientierung an der Mitte ist angesichts des wissenschaftlichen Angebots an Alternativen ein Weg der Routine, der verlassen werden muß und kann. Die wichtigste Voraussetzung zur Förderung aller Kinder auch in leistungsheterogenen Lerngruppen ist Transparenz der Lernanforderungen und Lehrangebote auf der Grundlage sorgfältiger Strukturierung. Die Schüler sollen ihre Kraft nicht auf die Interpretation ihrer Lehrer verwenden, sondern in deren Lehre unmittelbar den Sachen begegnen. Und sie sollen wissen, was sie damit machen und am Ende können sollen. Diese Transparenz ist nicht durch Trivialisierung, sondern durch theoretische Durchdringung des Faches zu gewinnen, sie ist nicht Anspruchsreduktion, sondern Steigerung des fachlichen Anspruchs.

Eine Steigerung des fachlichen Anspruchs auf dem Weg des „Mehr vom Gleichen“ oder „Das Gleiche, nur schwerer“ führt dagegen ins pädagogische Abseits. Hierin liegen die eigentliche Herausforderung und die derzeitigen Schwierigkeiten der Förderung von hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Die Norm der Pädagogik ist das Kind, und diese Norm ist absolut. Das Wort vom „geistigen Hauptschüler“ ermöglicht Mißverständnisse in diesem Punkt. Jedes Kind ist seinen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln; das gilt für hochbegabte wie für schwach begabte. Daraus folgt für die Hochbegabten nach dem Stand der Wissenschaft weder ein lähmender Standard der Mitte noch die Notwendigkeit der separierenden Beschulung, sondern der Anspruch, dass ihre Förderer und Lehrer das Wissen ausschöpfen, das die Erziehungswissenschaft bereithält.

Das ist der eine Weg. Walter Diehl und Armin Hackl fügten dem mit ihren Berichten über die von ihnen organisierten Projekte den zweiten hinzu, die Ausschöpfung von Erfahrung. Armin Hackl berichtete über die Arbeit seiner Lehrerinnen und Lehrer in den Würzburger Hochbegabtenklassen. Sie stünden nach zwei Jahren noch oder wieder am Anfang und brauchten Zeit, um aus ihren Erfahrungen Wissen zu entwickeln, das sie anderen Schulen zur Verfügung stellen wollten. – Walter Diehl berichtete über die Förderung von sechzehn Grundschulen in Hessen, die nach jeweils jahrelanger Arbeit im Bereich Hochbegabtenförderung nennenswerte Mittel erhalten, um ihre Wege auszubauen, ihre Erfahrungen auszuwerten und für weitere Schulen zusammenzufassen.

Schulen sollten den Mut haben, Plausibilitäten zurückzuweisen und sich dem zuwenden, was ihre Stärke ausmacht, dem unmittelbaren Kontakt zum Kind. Aus pädagogischen Zielen, sorgfältiger Diagnostik und didaktischem Experiment entsteht jenes Wissen, das die Briten so unnachahmlich knapp benennen können: What works?