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Hochbegabung – Fakten und Fiktionen

Detlef Rost. In: Gehirn & Geist, Heft 3, 2008, S. 44-50  https://www.academia.edu/48175714/Hochbegabung_Fakten_und_Fiktionen_Giftedness_Facts_and_Fictions_?email_work_card=view-paper

Detlef H. Rost analysiert seit zo Jahren die Lebens- und Berufswege von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit überdurchschnittlich hoher Intelligenz. In G&G erklärt der Pädagogische Psychologe und Entwicklungspsychologe, wie eine außergewöhnliche Begabung erkannt wird, wie es sich mit ihr lebt und welche »Wahrheiten« darüber wir besser im Land der Märchen begraben.

Definition eines  schillernden Begriffs

Was Hochbegabung ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Das liegt unter ande­rem daran, dass der Begabungsbegriff uneinheitlich gebraucht wird—auch von Experten. Es gibt vermutlich fast so viele unterschiedliche Auffassungen von »Be­gabung«, wie es Begabungsforscher gibt. Viele wollen sich profilieren: Sie brin­gen einen »neuen« Begabungsbegriff ein oder schlagen ein weiteres, möglichst kompliziertes Begabungsmodell vor. Da werden Kästchen und Kreise gemalt und so ziemlich alle Variablen aufgeführt, die in der Pädagogischen Psychologie jemals thematisiert worden sind. Einen wissen­schaftlichen Anspruch haben solche »boxologischen« Modelle bei genauerer Be­trachtung jedoch selten.

In der mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Psychologie führt der bei Laien und Pädagogen so beliebte Begabungsbegriff deshalb ein randstän­diges Dasein, ebenso wie der Hochbega-bungsbegriff. Meine Definition von ko­gnitiver Hochbegabung ist diese: Eine hochbegabte Person hat das Potenzial, sich schnell inhaltliches und prozedurales Wissen anzueignen. Sie kann dieses Wis­sen in vielen unterschiedlichen Situatio­nen wie Schule, Familie, Freizeit, Ausbil­dung und Beruf effektiv nutzen, um neue Probleme, die sich ihr stellen, zu lösen. Sie ist fähig, rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen zu lernen. Uni sie erkennt auch, auf welche neuen Situationen und Problemstellungen sie ihre gewonnenen Erkenntnisse übertragen kann und wann solch eine Übertragung nicht statthaft ist. All dies kann sie weit besser als ein Groß­teil ihrer Vergleichsgruppe, 21.50 zum Bei­spiel die Gleichaltrigen.

Die Definition von »weit besser« ist dabei eine reine Konvention. In der Regel gilt als hochbegabt, wer einen IQ von über Bei überdurchschnittlich intelligenten Menschen werden bestimmte Bereiche des Gehirns beim Problemlösen weniger stark aktiviert als bei Personen mit gerin­gerer kognitiver Leistungsfähigkeit. Ihre Gehirne scheinen dieselben Ressourcen einzusetzen, diese aber effektiver zu nut­zen. Zur Erklärung sind unterschiedliche Hypothesen formuliert worden, die bis­lang aber alle noch nicht befriedigen (sie­he auch »Dahintersteckt ein kluger Kopf«, ab S.52).

Die Diagnose

Schon ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren lassen sich mit Hilfe von Intelli­genztests für anwendungsbezogene Zwe­cke einigermaßen zutreffende Prognosen über die Intelligenzhöhe treffen -aller­dings nur für eine begrenzte Zeitspanne. Deutlich besser wird die Vorhersage bei Neun- bis Zehnjährigen. Doch erst etwa ab dem 14 bis 15. Lebensjahr ist die Pro­gnose über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg wirklich verlässlich, der Rang einer Person hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit – das drückt der IQ aus – bleibt stabil.

Zeigen sich bei Personen ab diesem Al­ter dennoch größere Verschlechterungen im IQ, liegt das meist an folgenden Grün­den: Entweder ist die Diagnostik nicht fachgerecht durchgeführt worden oder es liegen krankheitsbedingte Beeinträch­tigungen der intellektuellen Leistungs­fähigkeit vor. Manchmal ist die Ursache auch eine stärkere, zum Zeitpunkt der Di­agnose noch nicht bewältigte emotionale Belastung – etwa der Tod eines geliebten Menschen oder die Entlassung in die Ar­beitslosigkeit.

Von manchen Elternvereinen und Be­ratungsstellen – und leider auch von der einen oder anderen staatlichen Dienst­stelle – werden immer noch so genannte Checklisten zum Erkennen überdurch­schnittlich begabter Kinder angeboten. Darin linden sich sehr allgemein ge­haltene, nicht operationalisierte Merk­male, die angeblich ‚besonders typisch« für hochbegabte Kinder sein sollen. Et­wa: »hat Humor«, »kann gut denken«, »braucht wenig Schlaf« oder »ist für schö­ne Dinge empfänglich«. Nichts davon ist empirisch belegt, es ist mehr oder weni­ger Kaffeesatzleserei.

Die Aussagekraft von Intelligenztests

 Weltweit sind sich Begabungsforscher ei­nig, dass unsere kognitiven Fähigkeiten hierarchisch strukturiert sind. Ganz oben steht die allgemeine Intelligenz »g«, das heißt die Fähigkeit zum abstrakt-lo­gischen Denken – die zentrale Vorausset­zung für Erfolg in unserer informations­bestimmten Gesellschaft. Eine Ebene darunter finden sich breite mentale Gruppenfaktoren (verbal-schulischer ge­genüber praktisch-mechanischer Art). Es folgen engere mentale Gruppenfaktoren wie beispielsweise Sprachverständnis, Merkfähigkeit oder visuelle Vorstellungs­kraft und darunter wiederum sehr spezi­fische Fähigkeiten. Manchmal ist es nütz­lich, diese Subfähigkeiten getrennt von der allgemeinen Intelligenz zu bestim­men; das leisten viele Intelligenztests zu­frieden stellend. In den meisten Fällen ist man aber mit einer allgemeinen IQ-Mes­sung sehr gut bedient.

Die Anwendung solcher Tests gehört ausschließlich in die Hand eines diagnos­tisch gut ausgebildeten Diplompsycholo­gen. Ärzte, Lehrkräfte, Sonderpädagogen und andere psychologische Laien sollten die Finger davon lassen, da sie meist we­der das erforderliche diagnostisch-diffe­renzialpsychologische noch das statis­tisch-psychometrische Wissen besitzen. Wird ein Intelligenztest fachkundig durch­geführt, ausgewertet und interpretiert, kann man sich auf das Ergebnis verlassen. Wer sich bei der Erfassung der kogni­tiven Leistungsfähigkeit auf andere Ver­fahren als den Intelligenztest, eines der besten diagnostischen Instrumente der Psychologie, verlässt – der ist im wahren Sinn des Wortes verlassen.

Welche Tests wann zu empfehlen sind

Es gibt verschiedene bewährte und an­erkannte Intelligenztests. Wir benötigen auch nicht nur einen guten, sondern viele gute Tests. Wenn etwa eine Nachtestung erforderlich ist, um das Ergebnis einer ers­ten Messung abzusichern, muss man zu einem anderen Test greifen. Dieser sollte dem ersten jedoch konzeptionell ähneln. Empirische Studien zeigen darüber hinaus, dass die allgemeine Intelligenz »g« von Test zu Test die gleiche ist. Sie hängt also kaum davon ab, welcher Test gewählt wurde. Intelligenzforscher be­zeichnen dies als »Indifferenz der Indika­toren«.

Welcher Test wann verwendet wird, hängt vom Alter der Testperson sowie vom jeweiligen Untersuchungsanlass ab. Ohne konkrete Fragestellung gibt es keine vernünftige Diagnostik. Bei der Vorher­sage des Schulerfolgs tut man beispiels­weise gut daran, auch einen schulleistungsnahen Test einzusetzen. Bei der Un­tersuchung von Migrantenkindem, die sich mit der deutschen Sprache schwer­tun, sind Verfahren sinnvoll, die mini­male sprachliche Anforderungen haben. Auch für Seh- und Hörgeschädigte gibt es entsprechende Tests. Es gibt solche, die sich besonders gut für schwach Begabte eignen –  andere, die man bevorzugt bei einem Verdacht auf eine höhere Bega­bung einsetzt.

»IQ-Tests« im Internet sind bestenfalls ein netter Zeitvertreib. Dass auch eine »Landesweite Beratungs- und For­schungsstelle für Hochbegabung« (Ulm) eine Checkliste im Internet als »Online-Diagnostik« anbietet, macht es nicht bes­ser; mit seriöser Diagnostik hat das nichts zu tun.

Hochbegabte – Fachidioten oder Universalgenies?

Die allgemeine Intelligenz ist gewisser­maßen omnipotent. Einseitige Spitzen­begabungen sind ausgesprochen selten —wenn es sie überhaupt gibt. Alle intellek­tuellen Leistungen korrelieren nämlich positiv untereinander. Wer in einem Be­reich überdurchschnittlich befähigt ist, schneidet wahrscheinlich auch in ande­ren Bereichen besser ab als der Durch­schnitt. Diese »positive Mannigfaltigkeit« ist das wohl am besten gesicherte Ergeb­nis Zoo-jähriger Intelligenzforschung. Die Vorstellung vom vertrottelten Genie, das außerhalb seines Spezialgebiets le­bensuntüchtig ist, ist ein Klischee.

In welchen Bereichen eine hervorra­gend ausgeprägte Intelligenz tatsächlich zum Erfolg führt, hängt von der Umwelt ab. Wenn ein Lehrer eine hochintelligente Schülerin frühzeitig für Latein begeistern kann und sie entsprechend unterstützt und fördert, wird das Mädchen vermut­lich eine exzellente Lateinerin werden. Gerät sie hingegen zuerst unter die Fit­tiche einer engagierten Mathematikleh­rerin, die die Faszination im Umgang mit Zahlen und formalisierten Denkaufga­ben vermittelt, dann wird die Schülerin vermutlich ein besonderes Interesse auf diesem Gebiet entwickeln und hier zur Höchstform auflaufen.

»Emotionale Intelligenz« und Expertiseforschung

Immer wieder kursieren Hypothesen über verschiedene Formen von »Intelli­genzen« — allen voran die so genannte emotionale Intelligenz nach Daniel Goleman. Ein populäres Konzept mit gerin­gem Gehalt. Golemans Behauptung, emo­tionale Intelligenz sei für die Vorhersage von Berufserfolg mindestens doppelt so bedeutsam wie die klassische Intelligenz, ist nicht empirisch gestützt.

Der Zweig der Psychologie, der sich mit Hochleistungen auf einem engen In­haltsgebiet beschäftigt, heißt Expertise-forschung. Expertise hat per detinitionem weniger mit Intelligenz oder Begabung als vielmehr mit intensivem Training zu tun. Wissenschaftliche Spitzenleistungen sind in der Regel das Ergebnis einer langen Ausbildung und harter Forschungsarbeit über viele Jahre hinweg, das Ergebnis von – frei nach Edison – vielleicht 95 Prozent Trans­piration und fünf Prozent Inspiration.

Wie sich Intelligenz entwickelt

Anfangs, im Säuglings- und Kindesalter, beobachten wir bei allen gesunden Men­schen einen steilen Anstieg der intellek­tuellen Leistungsfähigkeit. Mit der Zeit verlangsamt er sich, und im frühen Erwachsenenalter erreicht die Intelligenz ein Plateau, das über viele Jahre stabil bleibt. Erst im Alter, wenn die physiologi­schen Abbauprozesse einsetzen, baut sich auch die kognitive Leistungsfähigkeit wie­der ab (siehe auch G&G 7-8/2OO7, S. 3O).

Der Abfall fängt bei der nicht bildungs­abhängigen Grundintelligenz – der flüs­sigen Intelligenz – früher an als bei der kristallisierten Intelligenz, nämlich be­reits mit etwa 25 bis 3o Jahren. Mit kristallisierter Intelligenz bezeichnen Psy­chologen die geistigen Fähigkeiten, die sich auf der Grundlage der flüssigen In­telligenz durch die ständige Auseinan­dersetzung mit unseren Kulturgütern herausbildet und schärft, also das Ergeb­nis von kumulierten Lernerfahrungen.

Wer am Ball bleibt, kann bis ins Alter hinein einen Abbau der kristallisierten Intelligenz verhindern, ja manchmal so­gar noch etwas zulegen. Damit sind nicht die vielen kaum evaluierten und, wenn überhaupt, nur kurzfristig wirksamen Trainingsprogramme gemeint, die kom­merziell vertrieben werden. Sie nützen vor allem den Verkäufern. Was man über solche Trainings allenfalls sagen kann: Sie schaden vermutlich nicht.

Dem Erhalt der mentalen Fähigkeiten dient die stete geistige Betätigung im all­täglichen Lebensvollzug, auch und gera­de in der Freizeit: Zeitungen, Krimis, Ro­mane lesen, politische Debatten verfol­gen, sich in einem Verein engagieren, soziale Kontakte pflegen, sich weiterbil­den (Volkshochschule), Schach spielen, andere Regionen und Länder erkunden, sich um die Enkel kümmern, dosiert Fern­sehen und sich über das Gesehene mit Freunden, Nachbarn, dem Partner aus­tauschen und vieles, vieles mehr. Das und nur das hat nachhaltige Effekte.

So fördern Eltern Begabungen richtig

In Zeiten der schnellen Entwicklung, also im Vor- und Grundschulalter, können —so eine plausible Hypothese — intellektueile Anregungen besonders gut verwertet werden. Eltern sollten also ihrem Kind frühzeitig und kontinuierlich gut dosier­te — ich betone: gut dosierte, nicht über­dosierte — Entwicklungsanreize bieten. Ein Oberschütten mit Förderprogram­men, wie es von manchen selbst ernann­ten Experten und Elternvereinen propa­giert wird, schadet häufig mehr, als es nützt.

Schulähnliche Programme sind für Drei- und Vierjährige unangemessen, auch wenn es Geschäftemacher, die etwa Englisch-Frühkurse für Zweijährige an­bieten, anders darstellen. Kinder brauchen für eine gesunde Ent­wicklung viel Zeit für sich selbst, zum Spielen, für die Pflege der sozialen Bezie­hungen zu ihren Freunden und für Ge­spräche mit den Eltern und anderen Be­zugspersonen. Auch Jugendliche müssen Zeit haben, einfach mal »rumzuhängen«.

Statt in Förderhysterie zu verfallen, sollten sich die Eltern mehr um ihre Schützlinge kümmern: Gespräche am Tisch und in der Freizeit, gemeinsame Unternehmungen oder Besuche in Mu­seen, Zoos oder bei Freunden nutzen al­len. Wenn Kinder zum Beispiel mit der Erfahrung aufwachsen, dass Bücher zum Familienleben einfach dazugehören, wenn sie täglich sehen, wie ihre Eltern selbst lesen, ist schon viel gewonnen.

Hängen Kinder und Eltern hingegen stundenlang vorm Fernseher, ist eine schleichende Verblödung vorprogram­miert. Es kommt eben auf die vemünftige Dosis und Auswahl an, bei der Förde­rung, beim Fernsehen, beim Faulenzen. Und: Eltern sollten sich sorgfältig um die Schulwahl kümmern. Eine gute Schule ist der zentrale Faktor für die Zuteilung von Lebenschancen. Damit wir uns richtig verstehen: Gute Schulen sind nicht unbe­dingt deckungsgleich mit Privatschulen.

Spezielle Schulen für Begabte?

Die Separierung von Schülern in speziel­le Klassen oder Schulen für Hochbegab­te sollte ein Ausnahmefall sein, nie die Regel. Die Homogenisierungshypothese, die dahinter steht, ist falsch: Durch segre­gierende Fördermaßnahmen entstehen keine homogenen Klassen, denn Persön­lichkeitsmerkmale wie Motivation, Be­lastbarkeit oder Konzentrationsfähigkeit sind unter Hochbegabten genauso ver­schieden wie unter anderen Kindern. Schon nach wenigen Unterrichtsmona­ten zeigt sich in solchen Spezialklassen zudem auch leistungsmäßig eine enorme Variabilität. Darauf weisen immer wieder Lehrer hin, die in »Hochbegabtenklassen« unterrichten.

Die Schule ist neben der Familie die wichtigste Sozialisationsinstanz unserer Gesellschaft. Hier erfahren Kinder, dass jeder »anders« ist, dass Heterogenität eine Bereicherung des Alltags darstellen kann. Auch Hochbegabte werden es im Leben hauptsächlich mit nicht Hochbe­gabten zu tun haben. Eine frühe Separie-rung stiehlt hoch- wie durchschnittlich Begabten wichtige Erfahrungen im Um­gang miteinander.

Bei einem differenzierenden Unter­richt, der Individualisierung nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel macht, sind solche Sonderinstitutionen meist überflüssig. Es ist geradezu grotesk: Im Zuge der allgemeinen Pisa-Hysterie hin­terfragen viele Pädagogen und Bildungs­politiker den Sinn des dreigliedrigen Schulsystems. Fast parallel dazu wollen viele Kultusministerien aus dem drei­gliedrigen Schulsystem ein viergliedriges machen, indem sie zusätzliche Hochbe-gabtenschulen und Hochbegabtenklassen einrichten! In Finnland — immerhin Pisa-Sieger — sind Sonderklassen oder -schulen für Hochbegabte kein Thema.

Die langfristig beste Begabungsför­derung ist eine gute (praxisbezogenere) Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehr­kräften Hier gilt eine einfache Formel: Gute Lehrer halten guten Unterricht. Da­von profitieren alle: unterdurchschnitt­lich Begabte, durchschnittlich Begabte und Hochbegabte.

Bei manchen hochbegabten Problem­fällen kann eine Herausnahme aus der Regelschule und Beschulung in einer Sonderinstitution, etwa einem Internat, angezeigt sein. Das trifft vor allem dann zu, wenn Eltern und Lehrkräfte dauerhaft überfordert sind oder es zu einer dra­matischen Störung der Schüler-Lehrer-Beziehung und/oder zu einer massiven Konfrontation zwischen Schule und El­ternhaus gekommen ist. Die Reintegra­tion in das »normale« Schulwesen sollte dabei stets das Ziel sein.

Intelligente Schulversager

Begabung ist nicht gleich Leistung, ob­wohl es eine deutliche positive Bezie­hung zwischen diesen beiden Faktoren gibt Damit sich höhere Begabung in bes­seren Leistungen niederschlägt, müssen viele Faktoren zusammenkommen, un­ter anderem ein anregungsreiches Eltern­haus und eine interessanter, fordernder und fördernder Unterricht. Allerdings wird bei hochbegabten Kin­dern die Leistung in der Regel stets etwas unter der zu erwartenden liegen. Diese Diskrepanz zwischen Begabung und Leis­tung wird umso größer, je extremer die intellektuellen Fähigkeiten ausgeprägt sind. Das hat rein statistische Gründe: Zum einen wird ein extremer Messwert meist durch eine weitere Kontrollmes­sung wieder etwas relativiert Zum an­dern korrelieren das gemessene Poten­zial und die erwartbare Leistung, die sich ebenfalls berechnen lässt, nicht 1:1. Je­mand mit einem IQ von 14.o gehört zwar zu den begabtesten zwei Prozent der Menschen; seine statistisch zu erwarten­de Leistung nähert sich aber dem Populationsmittel an, liegt also deutlich darun­ter. Man nennt dieses Phänomen auch »Regression zur Mitte«.

Besorgnis erregend wird es, wenn die gezeigte Leistung weit hinter dem zu­rückbleibt, was man auf Grund der Bega­bung erwarten könnte. Psychologen be­zeichnen dies als »Underachievement«. Wenn ein Hochbegabter sich langfris­tig vom Lernen verabschiedet und der  Schule und dem Unterricht innerlich kündigt, kann es passieren, dass er zum schlechten Schüler, ja zum Schulversager wird. Woran das liegt, muss von Fall zu Fall sorgfältig ermittelt werden. Hier gibt es keine pauschalen Ursachen Und des­halb müssen die erforderlichen pädago­gischen, psychologischen und mitunter auch psychotherapeutischen Maßnah­men sehr genau auf den Einzelfall (und auf die Bezugspersonen des Schülers) ab­gestimmt werden.

Hochbegabung  – Segen oder Fluch im Alltag?

Nationale und internationale Längsschnittstudien, die über viele Jahre den Lebensweg von Hochbegabten begleiten und ihn mit dem von nicht Hochbegab­ten vergleichen, zeigen: Im Durchschnitt haben es Hochbegabte im Leben nicht schwerer als andere. Ganz im Gegenteil, sie kommen sogar etwas besser zurecht Eine hohe kognitive Leistungsfähigkeit ist daher vermutlich eher ein protektiver denn ein Risikofaktor. Kein Zweifel: Es gibt Hochbegabte, die im Leben kläglich scheitern. Aber es gibt prozentual mindestens genauso viele normal Begabte, die das gleiche Schicksal erleiden. Versagen zu können ist kein ex­klusives Merkmal von Hochbegabten. Bei ihnen fällt es nur mehr ins Auge.

In der Literatur wird manchmal da­rauf hingewiesen, extrem Hochbegabte (mit einem IQ von 18o oderhöher) hätten besondere Schwierigkeiten mit sich und der Umwelt. Das ist aber wissenschaftlich und praktisch uninteressant, denn man kann eine so hohe Begabung nicht mehr messen. Und: Von diesen Höchstbe­gabten gibt es so wenige, dass diesbezüg­liche Aussagen auf sehr wackeligen Bei­nen stehen

Worauf es im Berufsleben ankommt

Ob ich als Chef eher einen Kandidaten mit einem IQ über 130 oder eine durchschnitt­lich intelligente, dafür überdurchschnitt­lich motivierte Bewerberin einstellen wür­de, hängt von der Anforderungsstruktur der Tätigkeit ab. Ist hervorragendes lo­gisch-abstraktes Denkvermögen — etwa bei einem Wissenschaftler — eine zentrale Voraussetzung, würde ich auf eine hohe Intelligenz viel Wert legen. Es muss jedoch keine Hochbegabung sein. Ab einem IQ von 120 kann eigentlich fast jeder alles ler­nen und auch anspruchsvolle Aufgaben erfolgreich bewältigen.

Ein Beispiel: Vor geraumer Zeit wur­den die Professoren einer weltberühmten englischen Eliteuniversität, alles gestan­dene Forscher und Hochschullehrer, hin­sichtlich ihrer Intelligenz untersucht. Ihr Mittelwert lag etwa bei einem IQ von 125, die Spanne reichte von etwa 110 bis 150. Viele waren zwar deutlich überdurch­schnittlich begabt, aber nicht hochbe­gabt. Gute wissenschaftliche Leistungen erfordern nämlich vor allem harte Klein­arbeit.

Wenn die Berufstätigkeit wenig abs­trakt-logisches Denken verlangt, ist die Intelligenz nicht mehr so wichtig. Dann sind hauptsächlich andere Faktoren für den Berufserfolg ausschlaggebend: Mo­tivation, Arbeitshaltung, Ausdauer, Ge­wissenhaftigkeit, soziales Geschick und vieles mehr. Man wird Erfolg haben, wenn der Beruf in etwa den eigenen Talenten, Neigungen und Fähigkeiten entspricht, wenn also weder eine deutliche Unterfor­derung noch eine deutliche Überforde­rung vorliegt.

Hochbegabtenförderung in Politik und Gesellschaft

Unsere hochkomplexe Informationsge­sellschaft stellt immer stärkere Anforde­rungen an die intellektuelle Leistungsfä­higkeit. Das erkennen zunehmend auch Bildungspolitiker. Doch anstatt in Ruhe zu analysieren und behutsam Reformen zu implementieren, ist eine Reform- und Förderhysterie ausgebrochen. Das be­trifft ebenso die häute übers Knie gebro­chene Hochbegabungsförderung.

Von den mannigfaltigen Förderansetzen ist kaum etwas evaluiert. Für Sonder­schulen und Sonderklassen für Hochbe­gabte wird viel Geld ausgegeben, an einer vernünftigen Effektkontrolle wird aber gespart. Niemand würde Tabletten schlu­cken, ohne dass mehrfach belegt worden ist, dass sie erstens nicht schaden und zweitens wirksamer sind als ein Placebo. Wenn ein Arzt ungeprüfte Methoden an seinen Patienten ausprobieren würde, käme er ins Gefängnis. Wenn Bildungs­politiker in hektischer »Reformitis« unge­prüfte Maßnahmen zur Begabungs- und Hochbegabtenförderung verordnen, kom­men sie ins Fernsehen. Welche Förder­maßnahmen wie effektiv sind, mit wel­chen ungewollten Nebenwirkungen man bei den wirksamen zu rechnen hat, wel­che lediglich eine Scheinbehandlung dar­stellen und welche man lieber gar nicht erst einsetzen sollte, ist beim überwie­genden Teil der Maßnahmen nicht be­kannt.

Die Bildungspolitiker täten gut daran, sich die richtigen Ratgeber zu suchen Das müssen aus meiner Sicht nicht im­mer diejenigen sein, die ständig im Fern­sehen über die Bedeutung der Hirnfor­schung für Schule und Unterricht reden und dann Banalitäten als neue For­schungsergebnisse verkaufen. Gestande­ne Pädagogische Psychologen wären häu­fig eine bessere Wahl.