Detlef Rost. In: Gehirn & Geist, Heft 3, 2008, S. 44-50 https://www.academia.edu/48175714/Hochbegabung_Fakten_und_Fiktionen_Giftedness_Facts_and_Fictions_?email_work_card=view-paper
Detlef H. Rost analysiert seit zo Jahren die Lebens- und Berufswege von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit überdurchschnittlich hoher Intelligenz. In G&G erklärt der Pädagogische Psychologe und Entwicklungspsychologe, wie eine außergewöhnliche Begabung erkannt wird, wie es sich mit ihr lebt und welche »Wahrheiten« darüber wir besser im Land der Märchen begraben.
Was Hochbegabung ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Das liegt unter anderem daran, dass der Begabungsbegriff uneinheitlich gebraucht wird—auch von Experten. Es gibt vermutlich fast so viele unterschiedliche Auffassungen von »Begabung«, wie es Begabungsforscher gibt. Viele wollen sich profilieren: Sie bringen einen »neuen« Begabungsbegriff ein oder schlagen ein weiteres, möglichst kompliziertes Begabungsmodell vor. Da werden Kästchen und Kreise gemalt und so ziemlich alle Variablen aufgeführt, die in der Pädagogischen Psychologie jemals thematisiert worden sind. Einen wissenschaftlichen Anspruch haben solche »boxologischen« Modelle bei genauerer Betrachtung jedoch selten.
In der mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Psychologie führt der bei Laien und Pädagogen so beliebte Begabungsbegriff deshalb ein randständiges Dasein, ebenso wie der Hochbega-bungsbegriff. Meine Definition von kognitiver Hochbegabung ist diese: Eine hochbegabte Person hat das Potenzial, sich schnell inhaltliches und prozedurales Wissen anzueignen. Sie kann dieses Wissen in vielen unterschiedlichen Situationen wie Schule, Familie, Freizeit, Ausbildung und Beruf effektiv nutzen, um neue Probleme, die sich ihr stellen, zu lösen. Sie ist fähig, rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen zu lernen. Uni sie erkennt auch, auf welche neuen Situationen und Problemstellungen sie ihre gewonnenen Erkenntnisse übertragen kann und wann solch eine Übertragung nicht statthaft ist. All dies kann sie weit besser als ein Großteil ihrer Vergleichsgruppe, 21.50 zum Beispiel die Gleichaltrigen.
Die Definition von »weit besser« ist dabei eine reine Konvention. In der Regel gilt als hochbegabt, wer einen IQ von über Bei überdurchschnittlich intelligenten Menschen werden bestimmte Bereiche des Gehirns beim Problemlösen weniger stark aktiviert als bei Personen mit geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit. Ihre Gehirne scheinen dieselben Ressourcen einzusetzen, diese aber effektiver zu nutzen. Zur Erklärung sind unterschiedliche Hypothesen formuliert worden, die bislang aber alle noch nicht befriedigen (siehe auch »Dahintersteckt ein kluger Kopf«, ab S.52).
Die Diagnose
Schon ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren lassen sich mit Hilfe von Intelligenztests für anwendungsbezogene Zwecke einigermaßen zutreffende Prognosen über die Intelligenzhöhe treffen -allerdings nur für eine begrenzte Zeitspanne. Deutlich besser wird die Vorhersage bei Neun- bis Zehnjährigen. Doch erst etwa ab dem 14 bis 15. Lebensjahr ist die Prognose über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg wirklich verlässlich, der Rang einer Person hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit – das drückt der IQ aus – bleibt stabil.
Zeigen sich bei Personen ab diesem Alter dennoch größere Verschlechterungen im IQ, liegt das meist an folgenden Gründen: Entweder ist die Diagnostik nicht fachgerecht durchgeführt worden oder es liegen krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit vor. Manchmal ist die Ursache auch eine stärkere, zum Zeitpunkt der Diagnose noch nicht bewältigte emotionale Belastung – etwa der Tod eines geliebten Menschen oder die Entlassung in die Arbeitslosigkeit.
Von manchen Elternvereinen und Beratungsstellen – und leider auch von der einen oder anderen staatlichen Dienststelle – werden immer noch so genannte Checklisten zum Erkennen überdurchschnittlich begabter Kinder angeboten. Darin linden sich sehr allgemein gehaltene, nicht operationalisierte Merkmale, die angeblich ‚besonders typisch« für hochbegabte Kinder sein sollen. Etwa: »hat Humor«, »kann gut denken«, »braucht wenig Schlaf« oder »ist für schöne Dinge empfänglich«. Nichts davon ist empirisch belegt, es ist mehr oder weniger Kaffeesatzleserei.
Die Aussagekraft von Intelligenztests
Weltweit sind sich Begabungsforscher einig, dass unsere kognitiven Fähigkeiten hierarchisch strukturiert sind. Ganz oben steht die allgemeine Intelligenz »g«, das heißt die Fähigkeit zum abstrakt-logischen Denken – die zentrale Voraussetzung für Erfolg in unserer informationsbestimmten Gesellschaft. Eine Ebene darunter finden sich breite mentale Gruppenfaktoren (verbal-schulischer gegenüber praktisch-mechanischer Art). Es folgen engere mentale Gruppenfaktoren wie beispielsweise Sprachverständnis, Merkfähigkeit oder visuelle Vorstellungskraft und darunter wiederum sehr spezifische Fähigkeiten. Manchmal ist es nützlich, diese Subfähigkeiten getrennt von der allgemeinen Intelligenz zu bestimmen; das leisten viele Intelligenztests zufrieden stellend. In den meisten Fällen ist man aber mit einer allgemeinen IQ-Messung sehr gut bedient.
Die Anwendung solcher Tests gehört ausschließlich in die Hand eines diagnostisch gut ausgebildeten Diplompsychologen. Ärzte, Lehrkräfte, Sonderpädagogen und andere psychologische Laien sollten die Finger davon lassen, da sie meist weder das erforderliche diagnostisch-differenzialpsychologische noch das statistisch-psychometrische Wissen besitzen. Wird ein Intelligenztest fachkundig durchgeführt, ausgewertet und interpretiert, kann man sich auf das Ergebnis verlassen. Wer sich bei der Erfassung der kognitiven Leistungsfähigkeit auf andere Verfahren als den Intelligenztest, eines der besten diagnostischen Instrumente der Psychologie, verlässt – der ist im wahren Sinn des Wortes verlassen.
Welche Tests wann zu empfehlen sind
Es gibt verschiedene bewährte und anerkannte Intelligenztests. Wir benötigen auch nicht nur einen guten, sondern viele gute Tests. Wenn etwa eine Nachtestung erforderlich ist, um das Ergebnis einer ersten Messung abzusichern, muss man zu einem anderen Test greifen. Dieser sollte dem ersten jedoch konzeptionell ähneln. Empirische Studien zeigen darüber hinaus, dass die allgemeine Intelligenz »g« von Test zu Test die gleiche ist. Sie hängt also kaum davon ab, welcher Test gewählt wurde. Intelligenzforscher bezeichnen dies als »Indifferenz der Indikatoren«.
Welcher Test wann verwendet wird, hängt vom Alter der Testperson sowie vom jeweiligen Untersuchungsanlass ab. Ohne konkrete Fragestellung gibt es keine vernünftige Diagnostik. Bei der Vorhersage des Schulerfolgs tut man beispielsweise gut daran, auch einen schulleistungsnahen Test einzusetzen. Bei der Untersuchung von Migrantenkindem, die sich mit der deutschen Sprache schwertun, sind Verfahren sinnvoll, die minimale sprachliche Anforderungen haben. Auch für Seh- und Hörgeschädigte gibt es entsprechende Tests. Es gibt solche, die sich besonders gut für schwach Begabte eignen – andere, die man bevorzugt bei einem Verdacht auf eine höhere Begabung einsetzt.
»IQ-Tests« im Internet sind bestenfalls ein netter Zeitvertreib. Dass auch eine »Landesweite Beratungs- und Forschungsstelle für Hochbegabung« (Ulm) eine Checkliste im Internet als »Online-Diagnostik« anbietet, macht es nicht besser; mit seriöser Diagnostik hat das nichts zu tun.
Die allgemeine Intelligenz ist gewissermaßen omnipotent. Einseitige Spitzenbegabungen sind ausgesprochen selten —wenn es sie überhaupt gibt. Alle intellektuellen Leistungen korrelieren nämlich positiv untereinander. Wer in einem Bereich überdurchschnittlich befähigt ist, schneidet wahrscheinlich auch in anderen Bereichen besser ab als der Durchschnitt. Diese »positive Mannigfaltigkeit« ist das wohl am besten gesicherte Ergebnis Zoo-jähriger Intelligenzforschung. Die Vorstellung vom vertrottelten Genie, das außerhalb seines Spezialgebiets lebensuntüchtig ist, ist ein Klischee.
In welchen Bereichen eine hervorragend ausgeprägte Intelligenz tatsächlich zum Erfolg führt, hängt von der Umwelt ab. Wenn ein Lehrer eine hochintelligente Schülerin frühzeitig für Latein begeistern kann und sie entsprechend unterstützt und fördert, wird das Mädchen vermutlich eine exzellente Lateinerin werden. Gerät sie hingegen zuerst unter die Fittiche einer engagierten Mathematiklehrerin, die die Faszination im Umgang mit Zahlen und formalisierten Denkaufgaben vermittelt, dann wird die Schülerin vermutlich ein besonderes Interesse auf diesem Gebiet entwickeln und hier zur Höchstform auflaufen.
»Emotionale Intelligenz« und Expertiseforschung
Immer wieder kursieren Hypothesen über verschiedene Formen von »Intelligenzen« — allen voran die so genannte emotionale Intelligenz nach Daniel Goleman. Ein populäres Konzept mit geringem Gehalt. Golemans Behauptung, emotionale Intelligenz sei für die Vorhersage von Berufserfolg mindestens doppelt so bedeutsam wie die klassische Intelligenz, ist nicht empirisch gestützt.
Der Zweig der Psychologie, der sich mit Hochleistungen auf einem engen Inhaltsgebiet beschäftigt, heißt Expertise-forschung. Expertise hat per detinitionem weniger mit Intelligenz oder Begabung als vielmehr mit intensivem Training zu tun. Wissenschaftliche Spitzenleistungen sind in der Regel das Ergebnis einer langen Ausbildung und harter Forschungsarbeit über viele Jahre hinweg, das Ergebnis von – frei nach Edison – vielleicht 95 Prozent Transpiration und fünf Prozent Inspiration.
Wie sich Intelligenz entwickelt
Anfangs, im Säuglings- und Kindesalter, beobachten wir bei allen gesunden Menschen einen steilen Anstieg der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Mit der Zeit verlangsamt er sich, und im frühen Erwachsenenalter erreicht die Intelligenz ein Plateau, das über viele Jahre stabil bleibt. Erst im Alter, wenn die physiologischen Abbauprozesse einsetzen, baut sich auch die kognitive Leistungsfähigkeit wieder ab (siehe auch G&G 7-8/2OO7, S. 3O).
Der Abfall fängt bei der nicht bildungsabhängigen Grundintelligenz – der flüssigen Intelligenz – früher an als bei der kristallisierten Intelligenz, nämlich bereits mit etwa 25 bis 3o Jahren. Mit kristallisierter Intelligenz bezeichnen Psychologen die geistigen Fähigkeiten, die sich auf der Grundlage der flüssigen Intelligenz durch die ständige Auseinandersetzung mit unseren Kulturgütern herausbildet und schärft, also das Ergebnis von kumulierten Lernerfahrungen.
Wer am Ball bleibt, kann bis ins Alter hinein einen Abbau der kristallisierten Intelligenz verhindern, ja manchmal sogar noch etwas zulegen. Damit sind nicht die vielen kaum evaluierten und, wenn überhaupt, nur kurzfristig wirksamen Trainingsprogramme gemeint, die kommerziell vertrieben werden. Sie nützen vor allem den Verkäufern. Was man über solche Trainings allenfalls sagen kann: Sie schaden vermutlich nicht.
Dem Erhalt der mentalen Fähigkeiten dient die stete geistige Betätigung im alltäglichen Lebensvollzug, auch und gerade in der Freizeit: Zeitungen, Krimis, Romane lesen, politische Debatten verfolgen, sich in einem Verein engagieren, soziale Kontakte pflegen, sich weiterbilden (Volkshochschule), Schach spielen, andere Regionen und Länder erkunden, sich um die Enkel kümmern, dosiert Fernsehen und sich über das Gesehene mit Freunden, Nachbarn, dem Partner austauschen und vieles, vieles mehr. Das und nur das hat nachhaltige Effekte.
So fördern Eltern Begabungen richtig
In Zeiten der schnellen Entwicklung, also im Vor- und Grundschulalter, können —so eine plausible Hypothese — intellektueile Anregungen besonders gut verwertet werden. Eltern sollten also ihrem Kind frühzeitig und kontinuierlich gut dosierte — ich betone: gut dosierte, nicht überdosierte — Entwicklungsanreize bieten. Ein Oberschütten mit Förderprogrammen, wie es von manchen selbst ernannten Experten und Elternvereinen propagiert wird, schadet häufig mehr, als es nützt.
Schulähnliche Programme sind für Drei- und Vierjährige unangemessen, auch wenn es Geschäftemacher, die etwa Englisch-Frühkurse für Zweijährige anbieten, anders darstellen. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung viel Zeit für sich selbst, zum Spielen, für die Pflege der sozialen Beziehungen zu ihren Freunden und für Gespräche mit den Eltern und anderen Bezugspersonen. Auch Jugendliche müssen Zeit haben, einfach mal »rumzuhängen«.
Statt in Förderhysterie zu verfallen, sollten sich die Eltern mehr um ihre Schützlinge kümmern: Gespräche am Tisch und in der Freizeit, gemeinsame Unternehmungen oder Besuche in Museen, Zoos oder bei Freunden nutzen allen. Wenn Kinder zum Beispiel mit der Erfahrung aufwachsen, dass Bücher zum Familienleben einfach dazugehören, wenn sie täglich sehen, wie ihre Eltern selbst lesen, ist schon viel gewonnen.
Hängen Kinder und Eltern hingegen stundenlang vorm Fernseher, ist eine schleichende Verblödung vorprogrammiert. Es kommt eben auf die vemünftige Dosis und Auswahl an, bei der Förderung, beim Fernsehen, beim Faulenzen. Und: Eltern sollten sich sorgfältig um die Schulwahl kümmern. Eine gute Schule ist der zentrale Faktor für die Zuteilung von Lebenschancen. Damit wir uns richtig verstehen: Gute Schulen sind nicht unbedingt deckungsgleich mit Privatschulen.
Spezielle Schulen für Begabte?
Die Separierung von Schülern in spezielle Klassen oder Schulen für Hochbegabte sollte ein Ausnahmefall sein, nie die Regel. Die Homogenisierungshypothese, die dahinter steht, ist falsch: Durch segregierende Fördermaßnahmen entstehen keine homogenen Klassen, denn Persönlichkeitsmerkmale wie Motivation, Belastbarkeit oder Konzentrationsfähigkeit sind unter Hochbegabten genauso verschieden wie unter anderen Kindern. Schon nach wenigen Unterrichtsmonaten zeigt sich in solchen Spezialklassen zudem auch leistungsmäßig eine enorme Variabilität. Darauf weisen immer wieder Lehrer hin, die in »Hochbegabtenklassen« unterrichten.
Die Schule ist neben der Familie die wichtigste Sozialisationsinstanz unserer Gesellschaft. Hier erfahren Kinder, dass jeder »anders« ist, dass Heterogenität eine Bereicherung des Alltags darstellen kann. Auch Hochbegabte werden es im Leben hauptsächlich mit nicht Hochbegabten zu tun haben. Eine frühe Separie-rung stiehlt hoch- wie durchschnittlich Begabten wichtige Erfahrungen im Umgang miteinander.
Bei einem differenzierenden Unterricht, der Individualisierung nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel macht, sind solche Sonderinstitutionen meist überflüssig. Es ist geradezu grotesk: Im Zuge der allgemeinen Pisa-Hysterie hinterfragen viele Pädagogen und Bildungspolitiker den Sinn des dreigliedrigen Schulsystems. Fast parallel dazu wollen viele Kultusministerien aus dem dreigliedrigen Schulsystem ein viergliedriges machen, indem sie zusätzliche Hochbe-gabtenschulen und Hochbegabtenklassen einrichten! In Finnland — immerhin Pisa-Sieger — sind Sonderklassen oder -schulen für Hochbegabte kein Thema.
Die langfristig beste Begabungsförderung ist eine gute (praxisbezogenere) Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften Hier gilt eine einfache Formel: Gute Lehrer halten guten Unterricht. Davon profitieren alle: unterdurchschnittlich Begabte, durchschnittlich Begabte und Hochbegabte.
Bei manchen hochbegabten Problemfällen kann eine Herausnahme aus der Regelschule und Beschulung in einer Sonderinstitution, etwa einem Internat, angezeigt sein. Das trifft vor allem dann zu, wenn Eltern und Lehrkräfte dauerhaft überfordert sind oder es zu einer dramatischen Störung der Schüler-Lehrer-Beziehung und/oder zu einer massiven Konfrontation zwischen Schule und Elternhaus gekommen ist. Die Reintegration in das »normale« Schulwesen sollte dabei stets das Ziel sein.
Intelligente Schulversager
Begabung ist nicht gleich Leistung, obwohl es eine deutliche positive Beziehung zwischen diesen beiden Faktoren gibt Damit sich höhere Begabung in besseren Leistungen niederschlägt, müssen viele Faktoren zusammenkommen, unter anderem ein anregungsreiches Elternhaus und eine interessanter, fordernder und fördernder Unterricht. Allerdings wird bei hochbegabten Kindern die Leistung in der Regel stets etwas unter der zu erwartenden liegen. Diese Diskrepanz zwischen Begabung und Leistung wird umso größer, je extremer die intellektuellen Fähigkeiten ausgeprägt sind. Das hat rein statistische Gründe: Zum einen wird ein extremer Messwert meist durch eine weitere Kontrollmessung wieder etwas relativiert Zum andern korrelieren das gemessene Potenzial und die erwartbare Leistung, die sich ebenfalls berechnen lässt, nicht 1:1. Jemand mit einem IQ von 14.o gehört zwar zu den begabtesten zwei Prozent der Menschen; seine statistisch zu erwartende Leistung nähert sich aber dem Populationsmittel an, liegt also deutlich darunter. Man nennt dieses Phänomen auch »Regression zur Mitte«.
Besorgnis erregend wird es, wenn die gezeigte Leistung weit hinter dem zurückbleibt, was man auf Grund der Begabung erwarten könnte. Psychologen bezeichnen dies als »Underachievement«. Wenn ein Hochbegabter sich langfristig vom Lernen verabschiedet und der Schule und dem Unterricht innerlich kündigt, kann es passieren, dass er zum schlechten Schüler, ja zum Schulversager wird. Woran das liegt, muss von Fall zu Fall sorgfältig ermittelt werden. Hier gibt es keine pauschalen Ursachen Und deshalb müssen die erforderlichen pädagogischen, psychologischen und mitunter auch psychotherapeutischen Maßnahmen sehr genau auf den Einzelfall (und auf die Bezugspersonen des Schülers) abgestimmt werden.
Hochbegabung – Segen oder Fluch im Alltag?
Nationale und internationale Längsschnittstudien, die über viele Jahre den Lebensweg von Hochbegabten begleiten und ihn mit dem von nicht Hochbegabten vergleichen, zeigen: Im Durchschnitt haben es Hochbegabte im Leben nicht schwerer als andere. Ganz im Gegenteil, sie kommen sogar etwas besser zurecht Eine hohe kognitive Leistungsfähigkeit ist daher vermutlich eher ein protektiver denn ein Risikofaktor. Kein Zweifel: Es gibt Hochbegabte, die im Leben kläglich scheitern. Aber es gibt prozentual mindestens genauso viele normal Begabte, die das gleiche Schicksal erleiden. Versagen zu können ist kein exklusives Merkmal von Hochbegabten. Bei ihnen fällt es nur mehr ins Auge.
In der Literatur wird manchmal darauf hingewiesen, extrem Hochbegabte (mit einem IQ von 18o oderhöher) hätten besondere Schwierigkeiten mit sich und der Umwelt. Das ist aber wissenschaftlich und praktisch uninteressant, denn man kann eine so hohe Begabung nicht mehr messen. Und: Von diesen Höchstbegabten gibt es so wenige, dass diesbezügliche Aussagen auf sehr wackeligen Beinen stehen
Worauf es im Berufsleben ankommt
Ob ich als Chef eher einen Kandidaten mit einem IQ über 130 oder eine durchschnittlich intelligente, dafür überdurchschnittlich motivierte Bewerberin einstellen würde, hängt von der Anforderungsstruktur der Tätigkeit ab. Ist hervorragendes logisch-abstraktes Denkvermögen — etwa bei einem Wissenschaftler — eine zentrale Voraussetzung, würde ich auf eine hohe Intelligenz viel Wert legen. Es muss jedoch keine Hochbegabung sein. Ab einem IQ von 120 kann eigentlich fast jeder alles lernen und auch anspruchsvolle Aufgaben erfolgreich bewältigen.
Ein Beispiel: Vor geraumer Zeit wurden die Professoren einer weltberühmten englischen Eliteuniversität, alles gestandene Forscher und Hochschullehrer, hinsichtlich ihrer Intelligenz untersucht. Ihr Mittelwert lag etwa bei einem IQ von 125, die Spanne reichte von etwa 110 bis 150. Viele waren zwar deutlich überdurchschnittlich begabt, aber nicht hochbegabt. Gute wissenschaftliche Leistungen erfordern nämlich vor allem harte Kleinarbeit.
Wenn die Berufstätigkeit wenig abstrakt-logisches Denken verlangt, ist die Intelligenz nicht mehr so wichtig. Dann sind hauptsächlich andere Faktoren für den Berufserfolg ausschlaggebend: Motivation, Arbeitshaltung, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit, soziales Geschick und vieles mehr. Man wird Erfolg haben, wenn der Beruf in etwa den eigenen Talenten, Neigungen und Fähigkeiten entspricht, wenn also weder eine deutliche Unterforderung noch eine deutliche Überforderung vorliegt.
Hochbegabtenförderung in Politik und Gesellschaft
Unsere hochkomplexe Informationsgesellschaft stellt immer stärkere Anforderungen an die intellektuelle Leistungsfähigkeit. Das erkennen zunehmend auch Bildungspolitiker. Doch anstatt in Ruhe zu analysieren und behutsam Reformen zu implementieren, ist eine Reform- und Förderhysterie ausgebrochen. Das betrifft ebenso die häute übers Knie gebrochene Hochbegabungsförderung.
Von den mannigfaltigen Förderansetzen ist kaum etwas evaluiert. Für Sonderschulen und Sonderklassen für Hochbegabte wird viel Geld ausgegeben, an einer vernünftigen Effektkontrolle wird aber gespart. Niemand würde Tabletten schlucken, ohne dass mehrfach belegt worden ist, dass sie erstens nicht schaden und zweitens wirksamer sind als ein Placebo. Wenn ein Arzt ungeprüfte Methoden an seinen Patienten ausprobieren würde, käme er ins Gefängnis. Wenn Bildungspolitiker in hektischer »Reformitis« ungeprüfte Maßnahmen zur Begabungs- und Hochbegabtenförderung verordnen, kommen sie ins Fernsehen. Welche Fördermaßnahmen wie effektiv sind, mit welchen ungewollten Nebenwirkungen man bei den wirksamen zu rechnen hat, welche lediglich eine Scheinbehandlung darstellen und welche man lieber gar nicht erst einsetzen sollte, ist beim überwiegenden Teil der Maßnahmen nicht bekannt.
Die Bildungspolitiker täten gut daran, sich die richtigen Ratgeber zu suchen Das müssen aus meiner Sicht nicht immer diejenigen sein, die ständig im Fernsehen über die Bedeutung der Hirnforschung für Schule und Unterricht reden und dann Banalitäten als neue Forschungsergebnisse verkaufen. Gestandene Pädagogische Psychologen wären häufig eine bessere Wahl.