1 Metadiagnostik – Begriffsbestimmung und Begründung
Dieser Bericht bezieht sich auf die praktischen Erfahrungen in der Anwendung von standardisierten Intelligenz-Tests bei ca. 1700 Schülern, die – mit wenigen Ausnahmen – unter der Fragestellung vorgestellt wurden, ob die beobachteten Probleme im (schulischen) Leistungsbereich oder auch im Verhalten (schulisch und außerschulisch) im Zusammenhang mit einer vermuteten Unterforderungssituation stehen könnten.
Der Einsatz standardisierter Intelligenz-Tests ist für diese Fragestellung zwingend. Er wird auch zum Ausschluss gravierender Störungsbilder z.B. bei der Diagnostik des AD(H)S im Sinne des ICD-10 gefordert. Grundgedanke des Berichts ist, dass der Intelligenz-Test nicht nur die Intelligenz misst, sondern systematische Beobachtungen zulässt, die weitere Informationen liefern, Informationen, wie sie in systematischer Anamnese oft deshalb nicht erhoben werden, weil sie außerhalb der Standardbedingungen liegen und Annahmen, die die Aufmerksamkeit in ihre Richtung führen könnten, weder bei den Bezugspersonen noch bei dem Testleiter bestehen.
Begabungsdiagnostik wird verstanden als Messung eines Potenzials. Dieses kann sich im Test – genauso wie im (schulischen) Alltag – nur näherungsweise zeigen. Entsprechend gilt als internationaler Standard, dass die Ergebnisse eines fachgerecht durchgeführten standardisierten Intelligenztests immer als Mindestschätzung des tatsächlichen Leistungspotenzials interpretiert werden müssen. Aufgabe des Testleiters ist es, den Probanden die Testsituation so zu gestalten, dass eine möglichst weitgehende Ausschöpfung des Leistungspotenzials im Test möglich ist. Außerdem gilt es, die Störfaktoren zu kontrollieren, die sich im Vorfeld nicht ausschalten lassen, und ihre Wirkung bei der Bewertung des Ergebnisses zu interpretieren.
Das Münchener Hochbegabungsmodell (Heller et al.) veranschaulicht, dass Leistung als Produkt von Intelligenz, Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltfaktoren zustande kommt. Wendet man die erklärende Intention des Begabungsmodells auf die Leistungssituation im Intelligenztest an, dann ergibt sich eine Suchanweisung, welche Bedingungen bei der Beurteilung der Leistung in der Testsituation kontrolliert werden müssen. Das bedeutet, dass die Validität der Potenzialmessung kritisch eingeschätzt werden kann, wenn auch Informationen über die aktuell umgebenden Bedingungen und die gerade virulenten Bedingungen der Persönlichkeit mit erhoben werden.
Meta-Diagnostik bei standardisierten Intelligenz-Tests heißt, komplementär zu den im Test-Setting erhobenen Leistungsbeobachtungen auch die Beobachtungen in den beiden anderen Feldern durchzuführen und sie erklärend auf die gerade erbrachte Leistung anzuwenden – insofern ergänzend zu weiteren in der Anamnese erhobenen Informationen.
Meta-Diagnostik liefert also
2 Exemplarische Begrenzung auf die Motorik und ihre Koordination mit der visuellen Wahrnehmung
Es gilt gezielt abzuklären, ob und in welchem Ausmaß beim Kind Auffälligkeiten bei der Aufnahme oder der Verarbeitung von sensorischen Informationen bestehen. Zielrichtung der Frage sollte nicht nur der defizitäre Bereich sein; möglicherweise liegt auch eine Überempfindlichkeit vor, deren Kompensation im Alltag mehr oder weniger gut gelingt (z.B. Hyperakousis oder Überempfindlichkeit beim Riechen). Ein weiterer – und besonders im Testzusammenhang eminent wichtiger Bereich – ist die Motorik und die Koordination der Motorik mit der visuellen Wahrnehmung. In exemplarischer Absicht werden sich die folgenden Ausführungen besonders hierauf beziehen.
3 Ein Beobachtungssystem motorischer Probleme während der Durchführung von Intelligenz-Tests
Zusammen mit einer Ergotherapeutin, die sehr intensiv mit hochbegabten Kindern arbeitet, haben wir unser gesamtes Testmaterial daraufhin überprüft, welche Aspekte sich für die Beobachtungsdiagnostik motorischer Auffälligkeiten nutzen lassen, und ein entsprechendes Beobachtungssystem erarbeitet. Die zusammenfassende Betrachtung der Ergebnisse der entsprechenden Untertests im Vergleich zu den übrigen unbeeinflussten Untertests führte uns zu einer sehr differenzierten Darstellung der Testergebnisse in Form eines Profils, in dem sich die Beobachtungen abbilden.
3.1 Beobachtungssystem motorischer Auffälligkeiten im HAWIK
Aufgrund des interaktiven Charakters des HAWIK lässt sich das Verhalten der Probanden in allen Aufgaben gut beobachten. Motorische Aktivitäten werden lediglich im Handlungsteil direkt zur Aufgabenbearbeitung benötigt. Nicht-aufgabenbezogenes motorisches Verhalten (Gestik, Sitzhaltung, allgemeine motorische Aktivität) findet jedoch in mehr oder weniger ausgeprägter Intensität auch während der übrigen Aufgaben statt. Wir unterscheiden folgende Aspekte motorischen Verhaltens:
Tabelle 1 gibt die Zuordnung der jeweiligen motorischen Aktivitäten zu den Aufgaben des HAWIK an.
Eine sehr wichtige Voraussetzung für (schulisches) Lernen genauso wie für zielgerichtetes Verhalten ist die Effizienz der visuellen Wahrnehmung. Wir unterscheiden folgende Aspekte der visuellen Wahrnehmung:
Meta-Diagnostik bedeutet auch, die unterschiedlichen Informationsquellen aufeinander zu beziehen, d.h. den während des Tests beobachteten Auffälligkeiten in den statistischen Ergebnissen der einzelnen Aufgaben nachzuspüren und sie zu belegen.
In den Tabellen 01 und 02 wurden unterschiedliche Kategorien von Beobachtungsmöglichkeiten und die korrespondierenden Untertests des HAWIK dargestellt. Analog der Profilauswertung, die von Tewes et.al. für den HAWIK-R vorgeschlagen wurden, kann man für jede Beobachtungskategorie eine Kombination der beteiligten Untertests des HAWIK im Vergleich zu den übrigen Untertests finden. Die dabei resultierende Differenz kann als deskriptives Ergebnis die Beobachtungen während des Tests unterstützen.
Tabelle 03 zeigt ein Beispiel für diese Profil-Auswertung.
Klaus wurde von seinen Eltern zum Test auf Empfehlung der Schule vorgestellt. Er zeige einen deutlichen Leistungsabfall in der Schule (besonders in der Rechtschreibung), sein Schriftbild sei krakelig und unausgeglichen. Auch ein deutlicher Motivationsverlust sei festzustellen. Die Lehrer hätten die Eltern darauf hingewiesen, dass es eine deutliche Diskrepanz zwischen den unverändert guten mündlichen Beiträgen von Klaus und seinen schriftlichen Leistungen gebe. Es sei der Verdacht, es könne möglicherweise eine Legasthenie vorliegen, geäußert worden.
Die Eltern berichten, dass Klaus zu Hause darüber klage, dass er in der Schule so viel schreiben müsste. Ihm tue regelmäßig die Schreibhand weh. Er sei Linkshänder – als einziger der Familie. Er sei dabei von keiner Seite beeinflusst worden. Die Vorsorge-Untersuchungen seien weitgehend unauffällig gewesen, wegen geringfügiger Probleme bei der motorischen Koordination sei vom Kinderarzt eine Ergo-Therapie empfohlen worden.
In der Testsituation fiel auf, dass Klaus bei einigen Aufgaben, in denen er ganz genau hinsehen wollte, nicht frontal auf das Material schaute, sondern seinen Kopf schräg hielt. Er benutzte in der Mehrzahl der Aufgaben beide Hände, konnte die Körpermitte zuverlässig kreuzen, nutzte aber bei den schwierigen Aufgaben des Mosaik-Tests die rechte Hand, während die linke nur stützte. Es entstand der Eindruck einer Störung im Bereich der visuellen Wahrnehmung – mit Auswirkungen auf Arbeitsgeschwindigkeit und motorische Koordination. Außerdem schien Klaus mit der rechten Hand effizienter zu arbeiten als mit der linken.
Im statistischen Ergebnis erreichte Klaus ein Gesamtergebnis von IQ 123, mit deutlichem Schwerpunkt in den sprachabhängigen Leistungen (IQ 131) bei durchschnittlichem Handlungsteil (IQ 107). Besonders die Dimension „Arbeitsgeschwindigkeit“ fiel gegenüber seinen übrigen Leistungen deutlich ab (IQ 94). In den übrigen Leistungsdimensionen erreichte Klaus Ergebnisse zwischen IQ 112 und IQ 133. Die vollständigen Ergebnisse sind im Anhang angegeben.
In der deskriptiven Profil-Auswertung erhärtete sich der Hinweis auf die bestehenden Probleme (relativ zu seinen übrigen Leistungen): Bei sehr homogenen Einzelergebnissen liegen die Kategorien „optische Differenzierung“ und „Beachten von visuellen Details“ auffällig unter seinen sonstigen Ergebnissen. Die größte Diskrepanz entsteht bei den Leistungen, die Anforderungen an die Arbeitsgeschwindigkeit unter Routinebedingungen stellen.
Im Ergebnisgespräch mit den Eltern wurde deutlich, dass sie bereits wiederholt Hinweise auf eine Sehschwäche erhalten hatten (Kindergarten, Grundschule). Aufgrund der unauffälligen Ergebnisse der Vorsorge-Untersuchungen waren aber keine weiteren Schritte unternommen worden. Sie wollten den erneuten Hinweis aber zum Anlass nehmen, eine sorgfältige Abklärung zu veranlassen. Auf das Problem der Händigkeit angesprochen ergänzten die Eltern die Informationen der Anamnese durch den Hinweis, dass Klaus sich erst recht spät im Kindergarten für die linke Hand entschieden habe. Auch dem Vorschlag, die Seitendominanz überprüfen zu lassen, wollten die Eltern nachgehen.
Im Nachgang des Tests zeigte sich als Ergebnis der Sehfähigkeitsuntersuchung eine einseitige Beeinträchtigung um 40%. Klaus sei eigentlich Rechtshänder, dem aber durch die Umorientierung eine Kompensation seiner Sehschwäche überraschend gut gelungen sei (was letztlich auch der Grund dafür war, dass bis in die dritte Klasse hinein keine gravierenden Auffälligkeiten zu beobachten waren).
Metadiagnostik bedeutet, dass
Bei dem Beispiel Klaus handelt es sich ohne Zweifel um ein sehr auffällig begabtes Kind. Die Umsetzung dieses großen Potenzials wurde aber behindert durch die bis dahin unerkannte Sehschwäche und die daraus begründete, von den Eltern aber nicht bemerkte Umstellung auf Linkshändigkeit. Erst das Testprofil in Kombination mit den stützenden Informationen aus Metadiagnostik, Verhaltensbeobachtung, Anamnese und Nachgespräch hat diese in ihren Auswirkungen schlüssig belegt.
Unsere Erfahrung zeigt, dass es sehr viele Kinder gibt, bei denen die Umsetzung ihres Potenzials durch verschiedene Faktoren der Umwelt und der Persönlichkeit schwer behindert wird. Die hier dargestellten Aspekte von motorischer Koordination und visueller Wahrnehmung sollten dies beispielhaft illustrieren und die Möglichkeit, durch Metadiagnostik die üblichen diagnostischen Quellen zu ergänzen, belegen.
Anhang