Anne Eckerle
Dr. David Bainbridge, ein britischer Wissenschaftspublizist, stellt trocken fest: „Teenager … sie müssen irgendwann während der Evolution des Menschen entstanden sein. Wir glauben, das hatte mit dem Gehirn zu tun*. Mit ihm glauben das inzwischen Psychologen, Neurowissenschaftler, Lehrer, Eltern … Pubertät, jahrhundertelang als Eintritt in die Geschlechtsreife gedeutet, wurde zu der Episode der menschlichen Entwicklung erklärt, in der das Gehirn anfängt, erwachsen zu werden. Und allen Hoffenden sei es gesagt: Abgeschlossen ist dieser Prozess erst mit etwa 25 Jahren; Manche meinen später.
Obwohl der Leidensdruck betroffener Eltern und weiterer Lehr- und Erziehungspersonen nicht verkannt wird – in der Regel wird mit Augenzwinkern über die Kids geredet, die da gerade Ungebührliches tun: „Sie haben keine Lust mehr auf Schule, keinen Bock auf Klavierunterricht, keinen Nerv für gute Manieren. Ihr Zimmer wird zur Sperrzone – kein Zutritt mehr für die »Alten«. Handy und Skateboard ersetzen Barbie und Lego, Tattoo und Piercing werden zu Symbolen der neuen Unabhängigkeit. Nahezu alles, was sie als Kind fesselte, finden sie jetzt auf einmal »uncool« – vor allem Papa und Mama“ (Herculano-Houzel 2006, S. 45). Wenn der Umbau des Gehirns Grund dafür ist – können die Kids dann nicht anders? Sind sie von ihrer Entwicklung programmiert? Ist Kritik eine ignorante Geste der Nichtwissenden? Müssen wir verstehend beiseite stehen und mit unbeirrbarer Liebe die Lebensgefühle unserer Kinder aushalten? Ganz klar: Nein! Um das näher einzuschätzen, ist es wichtig, sich zunächst sachkundig zu machen.
Zurück zu David Bainbridge: Sein Satz über das evolutionäre Auftreten des Phänomens „Teenager“ hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Teenager „sind keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber das heißt nicht, dass es sie schon immer gegeben hat. Biologisch gesehen sind sie vermutlich das Resultat einiger spektakulärer Mutationen in der Frühzeit des Menschen. … Das Gehirn durchlief zwei große Sprünge im Laufe unserer Entwicklung. Vor etwa drei Millionen Jahren verdoppelte sich das Volumen unseres Hirns nahezu. Vor 300.000 Jahren kamen dann weitere fünfzig Prozent dazu“ (ebda.3sat). Der Umbau an der Schwelle zum Erwachsenwerden ist also eine Folge der stammesgeschichtlichen Alleinstellung des menschlichen Gehirns und seiner Aufgabe, Größe mit Effizienz zu verbinden. Kinder erwerben ihr erstes Weltwissen und grundlegende Fähigkeiten; für das, was danach kommt, reorganisiert sich ihr Gehirn. Und das ist die Pubertät. Aus dem stammesgeschichtlichen Zusammenhang zwischen kultureller Entwicklung und Gehirngröße können wir innerhalb der Spezies heutiger Menschen aber nicht auf einen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intelligenz schließen. Das Gehirn ist eine Schaltzentrale, die abhängig ist von der Effizienz ihrer internen Vernetzung und damit von der Ökonomie ihrer Organisation. Im individuellen Fall kann ein kleineres Gehirn leistungsfähiger sein als ein größeres. Auch in der stammesgeschichtlichen Entwicklung besteht innerhalb des beobachteten phylogenetischen Wachstums zugleich eine Gegentendenz, die Reduktion. Tatsächlich wird in der Evolution der letzten 30 000 Jahre -„ausgerechnet in der Epoche der bedeutendsten kulturellen Errungenschaften“- eine Abnahme des Gehirngewichts beobachtet. Damit ist eine Spur gelegt, die Reduktionen im Gehirn mit Erhöhung der Leistungsfähigkeit in Verbindung sieht.
Pubertät als Gehirnumbau
Eingeleitet wird dieser Vorgang durch hormonelle Signale, die auf die Feststellung antworten, dass der Körper genügend Fett gespeichert hat. Damit besteht ein Zusammenhang zwischen Ernährung und dem Zeitpunkt der Pubertät, der neben weiteren (genetische Bestimmung, Reizüberflutung, Stress) dafür verantwortlich ist, dass die Pubertät immer früher eintritt – in den vergangenen 100 Jahren um mehrere Jahre. Die psychischen Turbulenzen, die das erwachende Interesse für das andere Geschlecht, aber auch die Einbußen und Neujustierungen durch den Gehirnumbau mit sich bringen, treffen in eine noch kindliche Lebenswelt. Daraus entsteht ein historisch neues Problem des Aufwachsens: die Spannung zwischen verfrühter Pubertät und der vollständigen Okkupation der anschließenden Jugendspanne für schulische Bildung – frühe Ablösung von Erwachsenen trifft auf lange Abhängigkeit von Erwachsenen.
Eine der wichtigsten Veränderungen gleich zu Beginn der Pubertät ist die Reduktion des Botenstoffs Dopamin, der an der Regulierung von Aktivität und Stimmung beteiligt ist. Etwa 30 Prozent der Rezeptoren gehen verloren. Die Null-Bock-Stimmung unserer Kinder ist also nicht eine Reaktion auf ihre Umwelt, zu der auch wir Erwachsenen gehören, sondern sie ist hausgemacht im Kind und wirkt fortan mit bei der Wahrnehmung und Wertung all dessen, was es zu erleben und zu planen gibt. Anschließend wird ein Umbauprozess eingeleitet, der Grundlagen für die Fähigkeit zum ab-strakten Denken und zur moralischen Urteilsbildung legt. Im Mittelpunkt dieses Umbaus steht das sogenannte Pruning, die Rückbildung von Synapsen, die wenig genutzt werden. Schon einmal hat das pubertierende Gehirn einen solchen Rückschnitt erlebt, ab dem dritten Lebensjahr, um danach, ansteigend mit dem Schuleintritt, wieder neue Verbindungen zwischen den Neuronen zu produzieren. In beiden Episoden des Pruning geht es um die Reaktion auf gestiegene Herausforderungen. Das Gehirn passt sich den Lebensumständen an, wirft Ballast ab und stellt im Rahmen seiner Möglichkeiten bereit, was gebraucht wird. Wenn mit der Öffnung des engen familiären Raumes nach dem dritten Lebensjahr die Lernangebote zunehmen, reagiert das Gehirn mit der Optimierung der Lernvoraussetzungen, und das gleiche erfolgt bei steigendem Leistungsanspruch im schulischen Bildungsgang ab dem Ende der Grundschulzeit.
Diese Veränderungen finden in den verschiedenen Arealen des Gehirns zu verschiedenen Zeiten statt, zuletzt im präfrontalen Cortex, also dem stammesgeschichtlich jüngsten und für die Besonderheit der Menschen wichtigsten Areal. Es ist „das Werkzeug der Urteilsbildung, des planenden Verstandes und der Moral. Hier ist die physische Grundlage für das Denken über das Denken, in einem Gehirnteil, der uns am meisten von den Tieren unterscheidet und der sich in der menschlichen Evolution am meisten verändert hat“ Reinhard Wallmann, S. 518. Eine dramatische Effizienzsteigerung wird durch die abschließende Steigerung der Nervenleitfähigkeit erreicht. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen (nur Axone) werden mit einer isolierenden Membran, dem Myelin, ummantelt und damit elektrisch isoliert. Mit dieser Veränderung verbessert sich auch die neuronale Feinabstimmung; die Körperbewegungen werden schneller, die motorische Reaktionszeit verkürzt sich und erreicht ihr Optimum mit etwa 14 bis 15 Jahren. Ich gehe noch einmal zurück zu der Reorganisation der Synapsen (Pruning).
Zwei Forschungsergebnisse zum Pruning
1. Katharina Braun, Neurobiologie, Universität Magdeburg
Sie befasst sich mit Einflüssen von Stress-Faktoren auf die frühkindliche Entwicklung des Gehirns, genauer seines Belohnungssystems. In diesem Kontext beschreibt sie das Pruning als sensible Phase, in der Stress-Faktoren zu Fehlverschaltungen führen können, die sich im weiteren Verlauf als Ursachen für verschiedenste Störungen auswirken können. Hier ist die Zunahme der Synapsen bis zum zweiten Lebensjahr veranschaulicht. Die schließlich erreichte Synapsendichte wird etwa ab dem dritten Lebensjahr beschnitten. Wenig genutzte Synapsen werden abgebaut, viel benutzte stabilisiert. „Frühkindliche Sinneseindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse werden, hirnbiologisch betrachtet, dazu „benutzt“, die Entwicklung und Ausreifung der noch unreifen neuronalen Schaltkreise, d.h. die Komplexität der Informationskanäle, im Gehirn zu optimieren. Im limbischen System werden vermutlich während der frühen Kindheit nicht etwa die Detailinformationen des Gelernten abgespeichert, sondern es werden in diesem „Belohnungssystem“ des Gehirns die grundlegenden Denkkonzepte und Strategien, also quasi die „Grammatik“ für späteres Lernen, und auch für die mit jedem Lernprozess untrennbar verknüpfte emotionale Erlebniswelt angelegt“ (Braun u.a., S. 49). Eine ruhige Lebenssituation, in der die Bedürfnisse des Kleinkindes empathisch aufgenommen werden, führt zu einer gelingenden Reorganisation, während schwerwiegende Störungen (Traumata, soziale und emotionale Vernachlässigung) zu Fehlern führen können, die später Grund für negative Entwicklungen werden.
Frau Braun nennt verschiedene Wirkungen – emotionale und soziale Verhaltensstörungen und Einschränkungen der Lernfähigkeit, u.a. (ebda., S. 55):
Diese Persönlichkeitsmerkmale können sich in unterschiedlichen Intensitäten und Mischungen zu Bildern zusammen setzen, die die diagnostischen Kriterien der meisten Verhaltensstörungen enthalten. Für das Lernen – das Aktivität voraussetzende Lernen – führt eine Störung des Belohnungssystems zum Erliegen der Anstrengungsbereitschaft. Hierbei handelt es sich sozusagen um Altlasten aus der ersten Episode des Pruning. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Die beiden hier beschriebenen „Episoden“ sind Intensivphasen eines kontinuierlichen Prozesses.)
2. Philip Shaw, National Institutes of Health (NIH), Bethesda, USA
Er befasst sich mit der zweiten Episode des Pruning, die in der Regel während der Grundschulzeit einsetzt. 2005 veröffentlichte er Ergebnisse zu einer Untersuchung, die für die Hochbegabtenförderung grundlegend wichtig ist, nämlich die Reorganisation des Gehirns in Abhängigkeit von der kognitiven Begabung. Sein Indikator war die Veränderung der Cortexdicke in verschiedenen Arealen. Nachstehend wird exemplarisch der Befund für den rechten Stirnlappen gezeigt. Der überraschende Befund weist auf einen für alle Kinder gleichen, aber im Zeitpunkt verschiedenen Ablauf hin. Die Kurven zeigen die zunehmende Cortexdicke für drei Begabungsstufen. Sie erreichen einen Scheitelpunkt und nehmen danach wieder ab. Die schwächer Begabten (rot, IQ< 100) reorganisieren als erste, die mittlere Gruppe (grün, IQ 100 – 120) versetzt und die höher Begabten (blau, IQ > 120) um mehr als vier Jahre nach der ersten Gruppe. Dabei starten die höher Begabten von einem Stadium geringerer Dicke, d.h. höherer Organisiertheit, in die Entwicklung und nähern sich der Cortexdicke der anderen Beobachtungsgruppen im jungen Erwachsenenalter an.
Aus dem Neigungswinkel der Kurve ist ersichtlich, dass die Werte jenseits des 19. Lebensjahres wiederum unter denen der anderen Begabungsgruppen liegen. Shaw überlegt, wie sein Befund zu interpretieren sei und stellt zunächst fest, dass er dazu im Rahmen seiner Forschung wenig sagen könne (der Biologe zu der Bedeutung auf der Verhaltensebene, für die vermutlich wissenschaftlich die Pädagogische Psychologie sich zuständig fühlen würde). Das hochbegabte Gehirn benötige offensichtlich mehr Zeit für seine Entwicklung.
Vereinbar mit seinen Beobachtungen ist aber auch die Interpretation, dass das hochbegabte Gehirn bei steigenden Lernzumutungen später in Not gerät als die Gehirne der anderen Begabungsgruppen und daher später zur Reorganisation genötigt ist. Empirisch passt Shaws Befund zu der Beobachtung, dass die 7. Klasse für hochbegabte Kinder eine kritische Jahrgangsstufe ist. Wenn sie überhaupt eine riskante Episode in ihrer Bildungslaufbahn erleben, dann ist es dieser Zeitpunkt. Ich bin in meinen Überlegungen zur Interpretation zu der Auffassung gekommen, dass die Reorganisation an einer Entwicklungsstelle, an der auch der Eintritt in das abstrakte Denken vorbereitet wird, Rückschnitt und Subsumtion umfassen müsse. Auf der Verhaltensebene würde das bedeuten, dass das hochbegabte „Teenager-Gehirn“ länger als das der anderen Begabungsgruppen mit nicht geordneter Wissensfülle an die schulischen Aufgaben herangeht und damit durchaus vorübergehend einen Nachteil in den Lernvoraussetzungen hat. vgl. dazu „Hochbegabung und psychische Störungen“.
Weitere Beobachtungen
Zum Verlust der Dopaminrezeptoren zu Beginn der Pubertät
Jessica Cohen von der University of California beschreibt eine Art von Suchtkreislauf bei Pubertierenden. Der Verlust von 30 % der Dopaminrezeptoren führe dazu, dass das Belohnungszentrum einen höheren Kick brauche, um auf biochemischem Weg den gleichen Grad von Befriedigung zu erreichen wie zuvor. In: Pubertierendes Gehirn belohnt Gefahr. Im Detail berichtet sie, dass Ursache für diesen Zusammenhang eine Abweichung in einem Abschnitt des Großhirns (Striatum) sei, die auf die Zeit der Pubertät begrenzt ist. In diesem Abschnitt werde offenbar zu viel Dopamin ausgeschüttet, wenn eine riskante Handlung subjektiv erfolgreich abgeschlossen wird. Daraus entstünde die Motivation zur Wiederholung, aber auch ein Gewöhnungseffekt, der zu einer Steigerung des Risikos führe. „Nie zuvor und nie mehr später im Leben ist denn auch die Gefahr größer als in der Adoleszenz, einen Unfalltod zu sterben“, bringt Julia Koch das Ergebnis auf den Punkt. Dabei sprechen Untersuchungen dafür, dass es Pubertierenden nicht an Urteilskraft fehlt. In Versuchssituationen (Computerspiele) können sie deutlich besser als jüngere Kinder und besser als Erwachsene Risiken und Chancen abwägen. „Der Grund, warum die Jugendlichen waghalsiger sind als alle anderen Testpersonen, ist nicht ein Problem der mangelnden Übersicht über die drohenden Konsequenzen. Sie wählen schlicht und einfach das Risiko“, erklärt Burnett. Sie suchen den Kick im Belohnungssystem. Dieser Suchteffekt ist auch Ursache für weitere Wege zur Intensivierung von Belohnungserlebnissen: Alkoholkonsum und Substanzmissbrauch. Alkolhol soll die Dopaminausschüttung um 200 Prozent verstärken, wird Andreas Fallgatter, Leiter der klinischen Suchtmedizin an der Universität Würzburg zitiert. Experimente in dieser Richtung sind in der Phase des Gehirnumbaus besonders verhängnisvoll, weil schon einmaliger Konsum zu einer Zellzerstörung führen kann (die unter günstigen Bedingungen reversibel ist).
Einbußen an Empathie
Jugendliche ab elf Jahren brauchen länger als Zehnjährige, um in Gesichtern die Emotionen zu erkennen. Die Geschwindigkeit nimmt danach noch weiter ab und erreicht erst bei 18-Jährigen wieder ihren Ausgangswert. Das berichtet eine Forschergruppe um Robert McGivern (San Diego State University). Die Wissenschaftler haben ihren Probanden Fotos vorgelegt und sie um Zuordnung von Emotionen zu den Abbildungen gebeten. Sie erklären dieses Versagen mit der Umorganisation des Gehirns, bei der neue Nervenverbindungen entstehen. „Während dieser Phase sind die Teenager mit Gefühlen in ihrer Umwelt oftmals überfordert – Fehleinschätzungen und ruppiges Verhalten sind die Folge.“
Genug mit Berichten über Risiken
Ich höre einige Eltern fragen, wo diese Kinder denn seien, in ihren Familien hätten sie Derartiges nicht erlebt. Das führt uns darauf, dass alle diese Forschungsergebnisse zu lesen sind als: Die Pubertät verstärkt das Risiko, dass … Auch wenn die berichteten Umbauvorgänge im Gehirn so beobachtet wurden, sind doch ihre Auswirkungen auf der Verhaltensebene statistischer Art. So wie es 80 Prozent der Jugendlichen gelingt, sich mit einer dauerhaften Unterforderung in der Schule zu arrangieren, so können die Jugendlichen auch, möglicherweise unter Einsatz von persönlicher Unterstützung und materiellen Ressourcen, Misslichkeiten ihrer Pubertät bewältigen. Vor allem hochbegabte Kinder zeigen immer wieder ihr Potenzial zur Selbststeuerung (und ihren kräftigen Widerstand gegen therapeutische Fremdsteuerung).
Gegenstimmen
Da Wissenschaft aber immer auf Fehlersuche ist, haben Forschungsergebnisse in der Regel auch Gegen-Ergebnisse. So auch die Berichte zur Pubertät. Robert Epstein, Psychologe und Gründungsdirektor des Cambridge Center for Behavioral Studies in Concord, Massachusetts, wendet sich gegen den “Mythos vom Teenager-Gehirn“. Wenn die biologischen Grundlagen der Verhaltensrisiken so bestünden, warum träte dann das »Chaos im Kopf« fast nur bei westlichen Teenagern auf? Seine Antwort: In den westlichen Kulturen wurde die Kindheit künstlich über die Pubertät hinaus verlängert und die Jugendlichen infantilisiert, indem sie wie Kinder behandelt und von Erwachsenen isoliert werden. Die Schulpflicht infolge der Industrialisierung hat sich von einer Wohltat in Gängelung umgedreht; die Ausdehnung der Phase, in der Heranwachsende fit für’s Leben gemacht werden, hält sie in einer künstlichen Station vor dem Leben fest. Verstärkt werde diese widersprüchliche Situation durch eine Industrie, die Jugendliche zur Zielgruppe erklärt, ihre Lebensformen in Werbung beschreibt und sie biografisch bis in die Dreißiger ausdehnt.
Aber Epstein bleibt nicht bei der Kulturkritik. Er nimmt eine Reihe von Forschungsergebnissen auf, darunter auch das Pruning, und argumentiert, dass es sich in vielen Fällen nicht um spezifische Vorgänge der Pubertät handele, sondern um fortwährende Entwicklungen über die Lebensspanne. So dauerten etwa die Effekte des Pruning bis weit in das Erwachsenenalter. – Zudem weise kein einziger Forschungsbericht einen kausalen Zusammenhang zwischen Gehirnumbau und Verhalten nach. Da es fast immer um Ergebnisse von bildgebenden Verfahren gehe, basierten die Aussagen auf Korrelationen, die kausal interpretiert würden. Er erinnert an die Mahnung von Elliot Valenstein von der University of Michigan aus den 80er Jahren, der im Zusammenhang mit bildgebenden Verfahren von einem schweren logischen Irrtum sprach. „Zweifelsohne muss sich jedes Denken und Handeln sowie jede Emotion in der Struktur und Aktivität des Gehirns widerspiegeln: Ist jemand impulsiv, lethargisch oder depressiv, so bildet die Verdrahtung der Neuronen im Gehirn das auch ab“ (ebda., S. 27).
Damit aber wäre die Kausalität umgedreht. Ihre Lebenssituation macht die Teenager „impulsiv, lethargisch oder depressiv“ und die Gehirnscans zeigen nur die Folgen. Gerade so können die Ergebnisse zur Cortexreduktion gegen Ende der Grundschulzeit gedeutet werden (s.o.). Die Kinder müssen auf Schwierigkeiten des Lernens stoßen, damit ihre Gehirne sich zu günstigeren Bedingungen entwickeln. Die Scheitelpunkte der Cortexdicke markieren auf diese Weise die statistischen Altersmarken, zu denen die verschiedenen Begabungsgruppen durch ihren Unterricht in Not gebracht werden. Jugendliche seien, so meint Epstein, leistungsfähiger als sie eingeschätzt werden. Umfangreiche Untersuchungen aus den USA und anderen Ländern zeigten, dass Teenager, die man wie Erwachsene behandelt, sich dieser Herausforderung fast übergangslos gewachsen zeigen. Ein Plädoyer für Ernstfallverantwortung (ebda., S. 28).
Und was nun?
Zunächst wird klar, dass wissenschaftliche Ergebnisse sich nicht in eine Werkzeugkiste legen lassen. Sie berichten über sehr spezifische, aus der Gesamtsituation herausgelöste Beobachtungen und versuchen sie zu deuten. Dabei basieren die Beobachtungen auf fachlichen Methoden, die Deutungen führen dagegen in die Phänomen-Welt, in der die Ergebnisse Sinn machen sollen, also in Kontexte gestellt werden. Dieser Schritt ist nicht durch die eingesetzten Methoden abgesichert, sondern bestenfalls haben die Wissenschaftler fachliche Kenntnisse des Weltausschnittes, in dem ihre Aussagen Bedeutung erhalten. Bei Neurobiologen, deren Ergebnisse pädagogisch oder psychologisch interpretiert werden sollen, ist das aber eher die Ausnahme. Hier haben Logik, Erfahrung und Common Sense eine gute Chance der Prüfung und Kritik.
Im Folgenden in Auswahl die Ratschläge, die der Familienwegweiser des BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Pubertät gibt.
1. Geben Sie Ihrem heranwachsenden Kind Stück für Stück mehr Freiräume.
Dieses Gebot ergibt sich grundsätzlich aus der widersprüchlichen Lebenssituation der Teenager, das wurde aus den Forschungsberichten deutlich. Gemeint ist mit dem Rat eine altersangemessene Selbstverantwortung, nicht aber die Freigabe der Selbstbestimmung. Autorität und Freiheit stehen in einer Beziehung, die immer vor Augen stehen sollte. Verweigern, was das Kind kann, stößt zu Recht auf Abwehr. Erlauben, was das Kind nicht überblickt, stellt ein kämpferisches Kind zufrieden und vermittelt ihm zugleich das Gefühl des Risikos. Es tritt mit seiner Aufgabe aus der Geborgenheit heraus und nimmt von der Überzeugung, dass seine Eltern in schwierigen Situationen sicher führen werden, ein kleines Stückchen weg. Riskant erlauben kann also das Vertrauen in die Eltern schwächen, selbst wenn die Erlaubnis vom Kind vehement erstritten wurde. Der Rat ist schwierig, denn er verweist auf das richtige Maß (vgl. unten, Punkt 4).
2. Einigen sie sich auf gemeinsame Familienregeln wie gemeinsame Mahlzeiten, Zuständigkeiten im Haushalt, Respekt vor der eigenen Privatsphäre, und halten sie sich auch selbst daran.
Wohl der wichtigste Rat, der gegeben werden kann. Struktur und Regelwerk geben Verhaltenssicherheit und bilden im Streitfall die Berufungsinstanzen. Die gemeinsamen Mahlzeiten bieten verlässliche Zeiten, zu denen die Familie beisammen ist und wichtige Informationen und Fragen nicht nur im Vorüberlaufen aufnehmen kann. Allerdings liefern Eltern sich mit diesem Vorgehen auch der Kritik ihrer Kinder aus, wenn sie sich nicht an die gemeinsamen Beschlüsse halten. Darum Vorsicht bei der Verabredung und Selbst-Aufmerksamkeit bei der Umsetzung! Die Vorschläge für Familienkonferenzen geben zu diesem Rat differenzierte Hinweise. Hilfreich für eine Vertiefung
3. Bleiben sie im Gespräch: Halten sie keine Vorträge, sondern hören sie Ihrem Kind auch zu.
Eines der größten Übel der Familienerziehung hat mit der Wiederholung der immer gleichen elterlichen Hinweise zu tun. Das „Nörgelmüttersyndrom“ meint Eltern, bei denen Mahnungen und Kritik einen großen Anteil am Familiengespräch haben. Die Wirksamkeit geht über die Zeit gegen Null und danach ins Negative. Solange ein Kind unaufgefordert von sich und seinen Erlebnissen erzählt, haben Eltern ein Kapital für die Erziehung in der Hand. Bereits mit subtilen Rückmeldungen können Anerkennung, Zweifel oder Mitfühlen geäußert werden und damit Anlass für ein Gespräch geben, das vom Kind begonnen wird.
4. Diskutieren sie mit Ihrem Kind, ohne auf ihren eigenen Standpunkt zu verzichten. Damit helfen sie ihm, eine eigene Meinung zu entwickeln.
Zwei Meinungen gleichzeitig in Betracht zu ziehen, damit das Ich und das Du zu unterscheiden, ohne zu überwältigen oder zu missachten, ist eine Leistung, in die das pubertierende Kind hineinwachsen muss. Es entwickelt damit nicht nur die Selbstaufmerksamkeit für sich und den eigenen Standpunkt, sondern auch die Grundlage für soziale Beziehungen. Hier ergibt sich auch eine Möglichkeit, das „riskante Erlauben“ zu erleichtern (vgl. Punkt 1). Ist die Situation, auf die das Erlauben sich bezieht, in einer vorangehenden Diskussion erörtert, kann das Kind in seiner Auswertung auf geäußerte, aber nicht durchgesetzte Bedenken zurückgreifen – wird das aber nur tun, wenn sie auf die Geste der „das hab ich doch gleich gesagt“ verzichten.
5. Nehmen sie Provokationen nicht persönlich. Ihr Kind grenzt sich nicht von ihnen, sondern von den Erwachsenen an sich ab.
Das wäre eine übermenschliche Leistung in den Familien, in denen oppositionelle Kinder Schulhofsprache gegen ihre Eltern einsetzen. Provokationen eines enttäuschten oder durchsetzungsbereiten Kindes können die Grenzen des Zumutbaren verletzen, denn die Schwellen, die vor fünfzig Jahren noch nicht übertreten wurden, werden in vielen Fällen mit kaum irritierbarer Selbstgewissheit übersprungen. Dies anzumerken ist wichtig, damit Eltern, die das in ihrer Familie erleben, sich nicht besonders betroffen fühlen, sondern wissen, dass sie damit nicht allein sind. Sollte es ihnen gelingen, solche Ausbrüche nicht persönlich zu nehmen, wenden sie sich um und nehmen sie sie persönlich. Das ist wichtig, um den Maßstab zu justieren. Machen sie ihrem Kind klar, was keinesfalls geht. Und fassen sie ihm zusammen, was es ihnen mitgeteilt hat. Verlassen sie dabei nicht die Erwachsenenrolle, die Gelassenheit und Selbstachtung ausdrücken sollte. Ein immer möglicher Weg ist, die akute Situation abzubrechen (aus dem Raum gehen) und nach Abklingen der Emotionen zu den Punkten 3 und 4 zu gehen.
Und zum Schluss:
Das Leitziel aller Erziehung ist das realistisch eingestellte Selbstvertrauen des Kindes. Die Forschungsergebnisse zur Pubertät beziehen sich auf Wirkungszusammenhänge, die etwas mit dem Kind machen. Erfolgreich bewältigt ist die Pubertät, wenn das Kind mit Hilfe seiner Umgebung das, was ihm geschieht, selbst zu steuern bereit ist. Daher ist es ein Eingriff in die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes, wenn seine Eltern oder es selbst einen Weg gehen, der verhindert, dass es sich bedrängt fühlt, Herausforderungen und Risiken erlebt. Ein Kind, das sich selbst nur aushalten kann, wenn Medikamente oder andere Substanzen es ihm erleichtern, büßt Möglichkeiten ein, das Leitziel aller Erziehung für sich zu erreichen.
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Unserer Ältester pubertiert gerade auch. Unser kleiner verschafft uns allerdings auch etwas Sorgen. Mit ihm möchten wir nun eine pädagogische Praxis für Kindesentwicklung aufsuchen.