Thomas Eckerle, Anne Eckerle Hochbegabung heißt auf Pädagogisch Unterforderung
Hochbegabung ist ein Begriff der Psychologie, der sich auf den Rang eines Menschen auf einer Leistungsskala bezieht. Pädagogisch wirft der Begriff der Hochbegabung eher Fragen auf, als dass er aufklärend wirkt. Für das praktische pädagogische Handeln schlagen wir daher vor, den Begriff gleichsam ins Pädagogische zu übersetzen, und zwar so, dass er den Sachverhalt bezeichnet, der kausal am Anfang der Bildungsbiografie von hochbegabten Kindern steht und sich dann in vielerlei Spielarten in der weiteren Geschichte eines hochbegabten Menschen bemerkbar macht: Unterforderung. Hochbegabung wird im allgemeinbildenden Schulwesen wirksam als Unterforderung. Pädagogisch ist auch sinnvoll von besonders oder hoch begabten Kindern und Jugendlichen statt von Hochbegabten zu sprechen.
Unterforderung heißt entgegen dem spontanen Empfinden nicht, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die es sich gemütlich machen dürfen und auf diese Weise leicht und zur Freude aller durch die Schule kommen. Unterforderung heißt vielmehr, dass es diesen Kindern und Jugendlichen verwehrt ist, in der Auseinandersetzung mit Aufgaben, die (subjektiv) schwer sind, intellektuell ihre Anstrengung und emotional ihre Erfolgserwartung zu organisieren. Anstrengung bei der Schularbeit bringt
intellektuell nicht nur Wissen, sondern auch Lernerfahrungen, die bei weiteren Herausforderungen unterstützend zur Verfügung stehen;
emotional nicht nur Vermeidungswünsche, sondern auch die Erfahrung des Bewältigens, die mit der Zeit die Erwartung begründet, dass „Ich“ jemand bin, die oder der mit Schwierigkeiten fertig wird. Diese Erwartung realistisch auf das individuelle Niveau des Könnens anzupassen und den Erfolg für den Aufbau des Selbstwertgefühls zu nutzen ist ebenso eine Grundfunktion allen Unterrichts wie die Entwicklung von Lernerfahrungen, die zu Lerntechniken oder – allgemeiner – zur Fähigkeit, mit Wissen umzugehen, weitergeführt werden. Bei starker Unterforderung erfüllt Unterricht diese Grundfunktion nicht.Aktuell im Unterricht macht sich das als „Langeweile“ (Irrelevanz, Belanglosigkeit) bemerkbar, die zu Lernunlust und unter ungünstigen Umständen zum Rückzug aus dem Lerngeschäft oder zum offenen Widerstand gegen Lehrerinnen und Lehrer führen kann. Uns werden Fälle vorgestellt, bei denen es aufgrund von Unterforderung zum jahrelangen zwangsweisen Ausschluss von öffentlichen Schulen (wegen Verweigerung der Mitarbeit) und zu dramatischen psychischen Fehlentwicklungen gekommen ist. Eine wichtige Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern besteht darin, ihren besonders begabten Schülerinnen und Schülern Aufgaben zu geben, an denen sie ihnen angemessene Lernerfahrungen machen können. Welche Art von Aufgaben hierfür in Frage kommt, wird im folgenden systematisch zusammengestellt und kurz kommentiert.
Wie macht man Aufgaben schwerer?
Im folgenden drei verbreitete Vorstellungen:
1. Aufgaben sind schwerer, wenn man in begrenzter Zeit mehr von ihnen lösen muss als andere Schüler der gleichen Klassenstufe. Wenn für die schnell arbeitenden Schüler Zusatzaufgaben eingeplant werden, im Fachunterricht oder im Wochenplan, dann handelt es sich oft um Erweiterungen im Sinne eines Mehr vom Gleichen. Wer schneller arbeitet, bekommt mehr zu tun. Diese Aufgabenerteilung liegt vor allem in der Grundschule und in der Orientierungsstufe nahe. Kommentar: Diese Variante ist demotivierend. Die Kinder haben das Geforderte verstanden, zeigen mit ihrer zügigen Bearbeitung, dass sie es beherrschen. In diesem Verlauf ist „Mehr vom Gleichen“ verhängnisvoll, weil es die leistungsbereite Haltung des Kindes mit langweiligen Aufgaben bestraft. Fallbeispiel: Ein besonders begabtes Mädchen löst seine Aufgaben in kurzer Zeit. Die Lehrerin beobachtet dies und gibt ihr, bis die anderen Schüler fertig sind, weitere Aufgaben, die ebenfalls prompt erledigt werden. – Zuhause berichtet das Mädchen weinend von einer kaum erträglichen Langeweile und von der „Strenge“ der Lehrerin. Obwohl sie die Aufgaben vollständig verstanden habe und Übung nicht erforderlich sei, müsse sie, je schneller sie arbeite, um so mehr erledigen.
2. Aufgaben sind schwerer, wenn sie im Lehrplan später liegen, wenn also mehr Wissen Voraussetzung für ihre erfolgreiche Bearbeitung ist. Die Möglichkeiten, auf diesem Weg die Leistungsanforderung zu steigern, sind von Fach zu Fach verschieden.
Mathematik und die Naturwissenschaften sind kumulative Schulfächer. Die unterrichteten Inhalte bauen aufeinander auf. Wer „Lücken“ der inhaltlichen Gesamtkonstruktion hat, wird sie aufholen müssen oder scheitern. Auch sehr gute Begabung setzt das fachliche Wissen voraus.
Komplizierter ist das bei Sprachen. Hier stehen im Anfangsunterricht das Grundwissen an Vokabeln und Grammatik im Vordergrund und begründen kumulativ die fachliche Leistung. In dem Maß, in dem Sprache vom Inhalt zum Medium wird, treten Allgemeinwissen und fachunspezifische Fähigkeiten hinzu, so dass die Bearbeitung der curricularen Anforderungen (in diesem Bereich) nicht zureichend allein aus der Gesamtmenge des fachlich Gelernten möglich ist.
Der Anteil der außercurricularen Inhalte und Fähigkeiten bei der Begründung der fachlichen Leistung ist noch größer in den sozialwissenschaftlichen Fächern. Hier hängt die fachliche Leistung entscheidend davon ab, dass die gelernten Inhalte mit vorhandenem Allgemeinwissen verknüpft werden und der Umgang mit dem integrierten Wissen persönlich initiativ ist und methodisch ausgearbeitet wird. Was eine Aufgabe schwerer macht als andere, ist im Rahmen der 2. Variante um so leichter zu erklären, je stärker kumulativ das Fach aufgebaut ist. Kommentar: Auch die zweite Variante hilft bei der Förderung von besonders begabten Kindern nicht. Sie führt im Gegenteil nachfolgend zur Verstärkung von Unterforderung, weil Vorausliegendes bereits verbraucht ist, wenn das besonders begabte Kind mit dem Fortschritt der Klasse voranrückt.
3. Aufgaben sind schwerer, wenn sie zum allgemein angebotenen Inhalt Zusätze enthalten, die außercurricular sind. Solche Zusätze sind meist gemeint, wenn von enrichment die Rede ist. Dabei sollten zwei Arten unterschieden werden: enrichment innerhalb des laufenden Unterrichtsstoffes und enrichment außerhalb der Schulfächer. Zunächst Beispiele für die erste Form:
Wenn im Chemie-Unterricht das Periodensystem eingeführt wird, wären Zusatzaufgaben denkbar wie: historische Beispiele für die Entdeckung eines bestimmten Elements nacharbeiten (etwa als außerhalb des Unterrichts vorzubereitendes Referat); oder Beobachtungen am System vornehmen, Hypothesen über das chemische Verhalten einiger Elemente aufgrund der Anordnung ihrer Elektronen und der Kenntnis von benachbarten Elementen erstellen (etwa als Einzel- oder Gruppenaufgabe während des Unterrichts).
Wenn im Geschichtsunterricht ein Ereignis betrachtet wird, könnte die Darstellung des gleichen Ereignisses in einem historischen Geschichtsbuch vorgelegt und der Vergleich angeregt werden. Wenn im Deutschunterricht Kurzgeschichten interpretiert werden, könnte ein Text über die Bauform von Kurzgeschichten gegeben und damit Arbeit auf der Theorie-Ebene vorgeschlagen werden. Die andere Form, enrichment außerhalb der Schulfächer, wird zum Beispiel bei Studientagen praktiziert: Die Kinder verlassen für bestimmte Zeiten ihre Lerngruppen, eventuell auch ihre Schule und arbeiten außerhalb mit anderen Kindern und einem anderen Dozenten an Inhalten ihres Interesses – über die Fledermaus, das Klima, die Physik der Zeit …. Hier kann man nur noch eingeschränkt von schulischer Förderung sprechen. Studientage ähneln mehr den von mehreren Trägern angebotenen Seminaren für besonders begabte Kinder, die in eigener Initiative der Eltern in der außerschulischen Zeit belegt werden können.Kommentar: Die Variante 3 in ihren verschiedenen Formen ist sinnvoll bei dem Ausgleich von Unterforderung einzusetzen, weil sie inhaltlich erweiternde Zugänge zum Fach schafft und aufgrund der Entwicklung von Kontextwissen geeignet ist, das Interesse am Fach zu unterstützen. Besonders lohnend kann diese Erweiterung sein, wenn die Arbeitsergebnisse des zu fördernden Kindes in das Lernen der anderen Kinder mit eingebracht wird (und dabei eine Außenseiterposition vermieden wird). Je unterrichtsbezogener das enrichment angesetzt wird, desto mehr hilft es, die Unterforderungssituation auszugleichen. Unterrichtsfernes enrichment führt zu der gespaltenen Situation einer langweiligen und subjektiv irrelevanten Schule und interessanten Nachmittagen oder Studientagen außerhalb der Schule, die auch bewußt kompensatorisch angesetzt werden. Es bedarf dann des Ziels und der Geschicklichkeit von Lehrern, Eltern und außerschulischen Dozenten, eine emotionale Polarisierung von Schule und enrichment zu verhindern.
Wir vertreten eine andere Auffassung und schließen uns damit den Bloomschen Lernzieltaxonomien oder – unterrichtsnäher – den Grundlagen der Kerncurricula an, die die zu erreichenden Kompetenzen in drei kognitive Anspruchsniveaus aufteilen.
4. Aufgaben sind schwerer, wenn die Art und Weise der geistigen Tätigkeiten, die sie anfordern, anspruchsvoller ist. Hierzu zwei Beispiele:
Im Geschichtsunterricht ist die Frage „Ein Leibeigener des 12. Jh. in der Region X möchte frei werden; was könnte er tun und welche Chancen hätte das?“ anspruchsvoller als die Frage „Welche Bindungen beinhaltete die Leibeigenschaft und wie wurden sie durchgesetzt?“ Die zweite Frage kann aufzählend erledigt werden; die erste Frage fordert die Komplexität der historischen Situation heraus, weiter den Entwurf eines Planes, der an den Bedingungen der historischen Situation orientiert ist, und schließlich die Integration dieser Bedingungen beim Abwägen von situationsgebundenen Risiken und Chancen. Es handelt sich um ein Problem mit offener Lösung.
Im Mathematikunterricht ist Cantors Frage „Gibt es mehr natürliche Zahlen als gerade Zahlen?“ anspruchsvoller und mathematisch bildender als die Einführung des Unendlichkeitsbegriffes über die Unmöglichkeit, zu Ende zu zählen. Im letzteren Fall begreifen die Kinder ihre eigene Begrenzung, nicht die Entgrenzung der Zahlenmenge; im ersten Fall müssen sie methodische Wege suchen, um über die Widerständigkeit von mathematischer Logik und eigener Anschauung hinweg zu einer Antwort zu kommen. Was eine Aufgabe schwerer macht als andere, ist im Rahmen der 4. Variante mit einer Taxonomie der geistigen Tätigkeiten zu erklären: Reproduktion ist leichter als Ordnen, dieses ist leichter als Zusammenhänge herzustellen oder auf Analoges zu transferieren. Letzteres ist aber wiederum leichter als eigenständiges induktives oder deduktives Argumentieren oder Problemlösen.Kommentar: Diese Variante ist die optimale Form der Förderung von besonders begabten Kindern. Hier wird die Lerntätigkeit weg vom Stoff und hin auf die Arbeit, das heißt vom Außen auf das Selbst umgestellt. Das kommt dem Bedürfnis der besonders begabten Kinder nach Aktivität und Strukturierung entgegen; und es bietet mehr als alle anderen Varianten die Chance, dass die Aufgabe selbst pädagogisch wirkt. Sie ist in der ersten Begegnung herausfordernd, weil die gewohnten Bearbeitungsformen (Inhalt zur Kenntnis nehmen und wiedergeben) nicht greifen, sondern gerade die Wege die Aufgabe ausmachen. Daraus entsteht das Erlebnis, dass ein Hindernis überwunden, eine Schwierigkeit bewältigt wurde (Leistungsmotivation). Und daraus entwickelt sich die Erfahrung, wie man mit zunächst widerständigen Aufgaben umgehen kann (Lerntechniken). Gerade das aber sind die Erfahrungen, die unterforderte Kinder entbehren. Die Aufgaben des gewohnten Unterrichts reichen nicht aus, ihnen den Selbstgenuss der eigenen Tüchtigkeit zu ermöglichen. Dieses Hochgefühl des Siegens über eigene Unsicherheit und latente Mißerfolgsängstlichkeit ist das wichtigste Anliegen des Unterrichts. Wo es nicht erlebt wird, sind punktuelle inhaltliche Interessen in den Fächern nur ein schwacher Ausgleich. Interessante Aspekte zu dieser Anforderung des flexiblen Anspruchsniveaus des Denkens finden sich im sogenannten Parallelcurriculum von Renzulli auf dieser Seite.
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