Individuelle Förderung … wenn es keine Schulklassen mehr gäbe

Anne Eckerle

Was könnte Schule sein, wenn es keine Klassen mehr gäbe …

März 2016

Summary: Die nachfolgenden Überlegungen führen auf den Vorschlag, individuelle Förderung als ständigen Anteil eines anspruchsvollen Gymnasialunterrichts einzurichten. Zielgruppe sollen Regelgymnasiasten und Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen (unzureichende Sprachkompetenz, Hochbegabung, biografische Besonderheiten, Handicaps) sein.  –  Schulorganisatorisch kreisen die Überlegungen um ein Tabu. Was wäre, wenn Klassen aus der Schulorganisation entfernt würden?

 Schulklassen – ein ambivalenter Ankerpunkt der Schulorganisation

Wir haben uns daran gewöhnt, und die Gewohnheit ist uns in vieler Hinsicht sogar lieb geworden: In die Schule gehen heißt in Klassen gehen. Dort treffen Schülerinnen und Schüler (SuS) ihre Freunde, aber auch die, mit denen sie sich auseinander setzen müssen. Klassengemeinschaften mit typischen Sozialstrukturen prägen Freud und Leid der individuellen SuS. Von ihren Klassen aus messen sie sich nach Jahrgangsstufen – weiter unten sind die Kleinen, weiter oben die Großen. Sie erleben sich in ihrer Entwicklung.

Den Klassen werden Lehrerteams zugeordnet, die sich (meist) für zwei Jahre fachlich und pädagogisch zuständig fühlen, an der Spitze die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer. Zielvorgaben geben dem, was sie den SuS beibringen sollen, Richtung und Kriterien; sie nehmen sie auf und setzen sie nach Maßgabe von Konferenzbeschlüssen und persönlichen Erfahrungen um. Für  Klassen und ihre Lehrerteams  entsteht auf diese Weise eine Vorstellung mit Auftragscharakter, was wo mit wie vielen Fachstunden im Laufe des Jahres gearbeitet werden und welche Ergebnisse es dabei geben soll. So sind die SuS und ihre Lehrerinnen und Lehrer (LuL) im Binnenraum der Klassen aufeinander verwiesen und werden nach außen an der schließlichen Zielerreichung gemessen.

Das Geschehen in diesem Binnenraum der Klassen beeinflusst das Lebensgefühl von Kindern und Jugendlichen oft bis in ihre Familien hinein. Noch Jahrzehnte später ist es bei Klassentreffen so präsent, als läge keine Zeit dazwischen.

Fotalia #43366706

Schule steht unter staatlicher Aufsicht. Klassen, Jahrgangsstufen, Lehrerteams, Schulgebäude und ihre Ausstattung sind Bezugspunkte von Gesetzen und Verordnungen,  in denen der Schulzweck definiert und die Wege des Erreichens umrissen werden. Die Klassen sind hierfür die Grundgesamtheit der Schülerschaft und Ankerpunkt der Schulorganisation.

Überprüft man diese gewohnheitsmäßige Vorstellung, dann stößt man auf Unklarheiten. In den Schulgesetzen der Länder gibt es keine Vorschrift, Klassen einzurichten. Im Hessischen Schulgesetz heißt es zum Beispiel: „Das Schulwesen gliedert sich nach Jahrgangsstufen, Schulstufen und Schulformen“ (3. Teil, 1. Abschnitt, § 11,1). Dennoch bezieht sich das Gesetz an vielen Stellen auf Klassen und Lerngruppen, etwa bei der Zügigkeit der verschiedenen Schulformen (z.B. 3 Parallelklassen), bei der Bestimmung von Maximalgrößen (z.B. 18 SuS in der Oberstufe) und bei integrierten Systemen (z.B. A- und B-Kurse). Die staatlichen Zielvorstellungen für die Schule sind jedoch durchweg auf Jahrgangsstufen und individuelle Schüler bezogen.

Gewohnheit verdeckt die Probleme. Sie werden erst sichtbar, wenn sie zu Barrieren werden, wie zum Beispiel für jene engagierte Lehrerin, die ein Unterrichtsproblem lösen wollte und dabei auf Strukturen stieß, die sie hinderten. Sie fragte nämlich an, ob man nicht den gesamten Religionsunterricht eines Jahres zu einem Block zusammenfassen könnte, damit statt eines Faches mit einer Wochenstunde (oder mit zwei Wochenstunden für nur ein Halbjahr) ein zusammenhängender Zeitraum für religiöse Grunderfahrungen zur Verfügung stünde. – Die Frage war traditionell für eine Klasse gestellt, denn nur die liegt ja im Gestaltungsauftrag der LuL. Schulpädagogisch gesehen aber war das die Frage nach der Flexibilität der Lehrerstunden in einer Klasse unter rechtlichem und praktischem Gesichtspunkt. Die Frage führte zu einer intensiven Diskussion zwischen den LuL, der Schulleitung und dem zuständigen Schulamt mit folgenden Ergebnissen:

Rat 1: Besprechen Sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen, ob sie ihnen die für ihre Klasse benötigten Stunden in der einen Woche überlassen und später (im weiteren Verlauf des Halbjahres)  in ihre Stunden eintreten wollen, um sich die Zeit zurück zu holen. – Eine Lösung, bei der punktuell das Anliegen der Lehrerin umgesetzt und die Zuordnung von Stunden, LuL und Klassen im Prinzip erhalten geblieben wäre.

Rat 2: Werben sie in ihrem Kollegium dafür, dass in jedem Halbjahr einen Monat lang der Stunden­plan zurück tritt und die Unterrichtsstunden schwerpunktmäßig auf wenige Fächer konzentriert werden (bei Ausgleich zwischen den Fächern in der Folge der Halbjahre). – Eine Lösung, bei der das Anliegen der Lehrerin zur didaktischen Chance für alle LuL der Schule ausgeweitet und die Zuordnungen von Stunden und LuL flexibilisiert worden wäre.

Fotalia #37359192

Vielleicht ist der weitere Verlauf von vornherein klar? (Regel-)Schule hat die Struktur, dass LuL in Klassen gehen und ihr Fach mit einer festgesetzten Stundenzahl lehren. Wenn diese Struktur verletzt wird, treten Skepsis und Ablehnung, im guten Fall Organisationsaufwand ein. Bei gefühlter Arbeitsüberlastung und alltäglichem Krisenmanagement wird das Bestehende verteidigt, so dass Entwürfe für wünschbare Entwicklungsschritte stecken bleiben oder gar nicht erst in Gang kommen. 


Was wären nämlich die schulorganisatorischen Wirkungen dieser Ratschläge?

Bei Rat 1 fällt für eine Woche der gesamte Unterricht der Religionslehrerin/dem Religionslehrer zu. Die Stunden, die die anderen LuL des Klassenteams zu erteilen gehabt hätten, liegen auf einem Guthabenkonto bei der Schulleitung, die sie in den verbleibenden Unterricht des Halbjahres einbaut. Der Religionsunterricht tritt im Stundenplan der betroffenen Klassen in dem Halbjahr nicht mehr auf. Das Guthabenkonto der Schulleitung enthält auch die Stunden der Religionslehrerin/des Religionslehrers, die in ihren/seinen weiteren Klassen und Fächern in der Woche entfallen wären; auch diese werden im weiteren Halbjahr verbraucht. – Es entsteht eine nicht unbeträchtliche Verwaltungsarbeit, die angesichts eines bedrängten Faches für eine Klasse, vielleicht auch für eine Jahrgangsstufe, noch leistbar erscheint; die Ausdehnung auf weitere Fächer und Jahrgangsstufen dagegen würde zu nennenswerten logistischen Anstrengungen führen.

Bei Rat 2 wäre für den Religionsunterricht keine Umverteilung der Stunden erforderlich  – und bei dieser Regelung hätten weitere Fächer die Chance, besondere Wege zu gehen. Pro Halbjahr könnte die Hälfte oder ein Drittel der Fächer in der Proportion ihrer Stundenanteile einzeln oder in Kooperation mit anderen die Freiräume nutzen, im nächsten Halbjahr entsprechend die anderen Fächer.  –  Für diese weitergehende Lösung müsste die Schule aber Pläne vorbereiten, die alle LuL beträfen. Die Lehrer selbst müssten  ihre Unterrichtsroutinen abbrechen und für die Zeit der Stundenverdichtung neu planen, vom Sinn der Maßnahme aus gedacht sogar mit alternativen Arbeitsformen und Zielen, die über fachliche Inhalte hinaus reichen.

Der heikle Punkt solcher Eingriffe in das Gewohnte sind die Auffassungen über Zeitökonomie, die das didaktische Arbeiten steuern. Das Fortschreiten im Inhaltlichen ist für die meisten Fachlehrerinnen und -lehrer wichtiger als der Aufwand für überfachliche Ziele. Die Mehrzahl der Gymnasiallehrerinnen und -lehrer erlebt sich vor der Herausforderung, der Vielfalt von immer neuen ablenkenden Aufgaben mit klarem Unterrichtskonzept entgegenzusteuern. Angesichts des verstärkten Evaluationsdrucks der Schulen tritt diese Grundhaltung eher verstärkt auf – und würde gegen die innovativen Ideen der Religionslehrerin arbeiten.

Versucht man, in diesen Einschätzungen eine zentrale Ursache für die Schwierigkeiten zu finden, dann stößt man wiederum auf den Klassenunterricht. LuL haben einen Besitz, mit dem sie wirtschaften müssen, nämlich die Stundenzahl ihrer Fächer pro Klasse. Sie volle Stundenzahl ist die Grundlage ihres Erfolgs, nämlich des Erreichens der gesetzten Standards/der vorgegebenen Ziele. Die Stundenzahl wird daher verteidigt.

Was also wäre, wenn der Binnenraum der Klasse geöffnet, die Koppelung von Fachlehrerin oder –lehrer an eine Klasse aufgehoben und die je individuelle Schülerin/der je individuelle Schüler in den Mittelpunkt der Schulorganisation gerückt würde? Die SuS würden über die Hälfte der Unterrichtszeit mit je verschiedenem Tempo in wechselnder Zusammensetzung arbeiten, zwar mit Anleitung und Unterstützung, aber nicht instruktionsförmig. Der Grundsatz „LuL haben einen Besitz, mit dem sie wirtschaften müssen, nämlich die Stundenzahl ihrer Fächer pro Klasse“ hätte seine Geltung verloren. Die Fachlehrerinnen und -lehrer der Doppelstufe hätten gemeinsam Verantwortung für das Vorankommen der SuS, sie würden unterstützt mit diagnostischer und lerntherapeutischer Kompetenz. Die abgeschirmte Arbeit hinter der Klassentür würde durch eine starke Ausweitung der Kommunikation zwischen den LuL abgelöst.

Mobbing – Einsamkeit

Als in den 70er Jahren sozial flexible Systeme wie die integrierten Gesamtschulen und die neugestaltete gymnasiale Oberstufe eingeführt wurden, waren Bedenken zu hören, dass damit die Klassengemeinschaft geschwächt und durch sozial unverbindliche Gruppen ersetzt würde. Einbußen für die seelisch-soziale Entwicklung der SuS wurden vermutet. Aber auch Gegenstimmen meldeten sich und mahnten an, dass die Klassen nicht nur soziale Gewinner umfassten, sondern auch Außenseiter und abgelehnte SuS, die in ständiger Bedrängnis lebten und deren Befindlichkeit durch höhere soziale Flexibilität der Schülerorganisation wesentlich verbessert werden könnte. Die Meinungen blieben kontrovers. Der Grund dafür, dass die Institution Klassenverband durch Einführung des Kurssystems angetastet wurde, war schon damals das Ziel, eine bessere Passung der individuellen SuS zu erreichen. Waren sie vorher gebunden an die gemeinsame Mitte (des Niveaus, der Geschwindigkeit, des Interesses …) ihrer Klasse, konnten sie jetzt auf verschiedenen Anspruchsniveaus arbeiten, Fächer wählen oder abwählen und individuelle Schwerpunkte bilden.

Die Frage, ob hierfür nicht ganz andere, viel weiter gehende Lösungen denkbar wären, wurde damals nicht gestellt und wird in der Schulpädagogik und Pädagogischen Psychologie bis heute kaum gestellt.  Flexiblere Schülergruppierungen werden stets von einer Klasse/Stamm­gruppe aus angestrebt; Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit sind Phasen und Sozialformen des Klassen-/Kursunterrichts. Die Klassenverbände vollständig in Frage zu stellen scheint aufwändig und riskant. Alles, was Schule strukturiert, geriete in Umbruch: der Stundenplan, die Berechnung der Lehrerarbeitszeit, die Schularchitektur.

  1. Argument – Das Problem der Vielen und der Wenigen

Kinder wollen in der Schule voranrücken und dem Ziel ihrer Bildung, dem Abschluss, näher kommen. Das ist so grundlegend wie die Beobachtung, dass Kleidung zu klein wird, Fähigkeiten zunehmen und Freiräume sich ausweiten.  Die Daseinsform von Kindern ist Wachsen, ist Erwarten und Erreichen. Und das muss in seinen vielfältigen konkreten Formen erfahrbar werden und gelingen, d.h. die vorauslaufenden Erwartungen müssen durch Entwicklung eingeholt werden. Die Schule muss auf ihre Weise die Daseinsform ihrer SuS annehmen, mit ihren Strukturen das Wachsen belegen und darauf achtgeben, dass jedem Kind das Einholen seiner Erwartungen auch gelingt. Die Ordnung der Jahrgangsstufen bietet hierfür einen äußeren Rahmen, in den sich traditionell die Klassenstruktur eingefügt hat.

Aber die individuelle Entwicklung hält sich nicht immer an die Ordnung der Jahrgangsstufen. Eben so wie das Fortschreiten der  SuS gehört zur Schule  die ungleiche Entwicklung von Gleichaltrigen – oder nennen wir es das Problem der Vielen und der Wenigen. Die Vielen entsprechen dem Modell, dem mittleren Niveau, das für den Klassenunterricht so oft Ausgangspunkt ist. Sie sind nach Wissensstand sowie nach Fähigkeit und Bereitschaft zur Arbeit so fortgeschritten, dass sie den Vorgaben der Klasse – sehr gut oder auch knapp, aber – entsprechen können. Die Wenigen entsprechen nicht dem Modell. Aus Gründen, die für ihre LuL diagnostische Herausforderungen sein sollten, sind sie entweder nach Wissensstand oder nach Fähigkeit und Bereitschaft zur Arbeit nicht auf dem gleichen Stand. Vielleicht sind sie in allen Punkten weiter und hadern mit ihrer unergiebigen, langweiligen Lernsituation. Vielleicht sind sie in einigen oder allen Punkten weniger weit und entwickeln Angst und Abwehr gegenüber der täglichen Konfrontation mit den Vielen. In welchen Richtungen und Mischungen ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft auch abweicht, sie bemerken, dass sie aus der Ordnung fallen, nicht in Ordnung sind und Befremden auslösen.

Das Sitzenbleiben in der Regelschule ist eine handfeste Auskunft an die Erwartung des Fortschreitens; die Erwartung wurde nicht eingeholt, die Herausforderung, die sie gesetzt hat, wurde nicht bewältigt. Diese Erfahrung führt nicht nur zu dem Verlust des Klassenverbandes, sie ist eine institutionalisierte Bedrohung des Selbstvertrauens und damit des Erziehungsauftrags der Schule. – Das Übertreffen der Erwartung ist entgegen einer vordergründigen Plausibilität ebenfalls eine handfeste Auskunft an die Erwartung des Fortschreitens; die Schule konnte keine Herausforderung setzen, es gab nichts zu bewältigen, Voranschreiten wurde nicht erlebt, weil der Ausgangspunkt schon jenseits des Ziels war. Selbsterfahrung ist nicht möglich, die Entwicklung eines realitätsnahen Anspruchsniveaus wird verhindert – oft mit schwerwiegenden Folgen für das Kind.

Die Vielen und die Wenigen sind an ein und dieselbe Klasse gebunden. Für die Zurückbleibenden und die Übertreffenden gilt, dass die Schule an ihnen ihren Auftrag verfehlt, nämlich SuS lernen zu lassen.

Tatsächlich erleben LuL dieses Verfehlen als berufsbegleitenden Konflikt: Es gehört zum professionellen Selbstbild, dass LuL sich um die zurückbleibenden SuS bemühen (noch nicht in gleicher Weise um die übertreffenden). Aber sie erleben diese Aufgabe nach Art der kommunizierenden Röhren: Je mehr Zeit sie den Wenigen zuwenden, desto weniger Zeit haben sie für die Vielen. Ein Frankfurter Schulleiter drückte das drastisch aus: Der Anspruch des einzelnen Kindes auf Förderung ist seine Arroganz auf Kosten der Vielen. Solange Schulklassen der Ausgangspunkt der Schulorganisation sind, wird diese Ambivalenz, dieses Prinzip der kommunizierenden Röhren, bleiben.

2. Argument – Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen

fotalia #118993517 Verweigerung der Kooperation

Besondere Bedürfnisse müssen nicht immer Behinderungen, sondern können Passungsprobleme in einem weiten Sinn sein; etwa ein Rückstand in der deutschen Sprache, besondere Begabung, psychische Belastungen … . Sie erweitern das Problem der Vielen und der Wenigen um zusätzliche Aspekte. Fast sollte es selbstverständlich sein, dass ein betroffenes Kind, das tagtäglich mit Anderen zusammen lebt und sich vergleicht, besondere Unterstützung braucht. Aber dieses Problem muss wieder unter Erhalt der traditionellen Klassen gelöst werden. Zum Beispiel heißt es in der hessischen Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen: „Die Förderung in der Klassengemeinschaft hat Vorrang“ (VO vom 15. Mai 2012, § 4,2). Im Modell der kommunizierenden Röhren bedeutet eine Ausweitung der individuellen Förderung den Verbrauch von Lehrerzeit. Damit das nicht auf Kosten der Vielen geht, wird nicht etwa die Unterrichtsstruktur flexibilisiert, sondern unter Erhalt der Struktur stundenweise eine zweite Lehr-/Hilfskraft zugeordnet. 

Die Bindung einer Schülerin oder eines Schülers an die Klasse, die Fixierung der LuL an ihre Stundenverteilung, die Begrenztheit der Lernformen, die in der Organisationsform Klasse praktiziert werden, alles das schränkt die Möglichkeiten ein, SuS mit besonderen Bedürfnissen so in die Gemeinschaft der Vielen aufzunehmen, dass ihr Anders-Sein nicht zu einer dauerhaften Belastung für sie selbst und ihre MitschülerInnen wird.

Dass dieses System nicht aussichtsreich ist wird deutlich an den Versuchen, Schülerinnen und Schüler mit unangepasstem Verhalten in einer Regelklasse zu beschulen. Während eine körperliche oder Sinneseinschränkung einen für Alle auffälligen Unterschied setzt, werden SuS mit schwierigem Verhalten spontan nicht als behindert, sondern als anstößig erlebt. Die „Entschuldigung“ einer augenfälligen Behinderung fehlt und die Verhaltensinterpretation folgt der vertrauten Plausibilität. Ein einziges solches Kind, so ist abwehrend besonders aus Gymnasien zu hören, kann die Arbeit in einer Klasse zunichte machen. Warum? Weil die LuL immer im Kontext der Klasse fixiert, also den Vielen verpflichtet sind und Freiräume zur Unterstützung des betroffenen Kindes in dieser Enge nicht zur Verfügung stehen.  Die Arbeit einer stundenweise zugeordneten Sonderpädagogin oder eines Sonderpädagogen kippt bei dieser Form des Förderbedarfs oft  zu der Leistung von Krisenmanagement. Die meisten der betroffenen Kinder werden nach erfolglosen Mühen „querversetzt“ oder „abgeschult“.

Solche Probleme sprechen nicht gegen das Ziel, Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen gemeinsam mit den passgerechten zu beschulen, sondern fordern angemessenere Wege. Unter den Bedingungen des „Was wäre, wenn …?“ würde ein Kind mit schwierigem Verhalten nicht immer der großen Gruppe ausgesetzt sein; es könnte sich im individuellen Arbeiten zurückziehen und seine LuL würden es bei der Kleingruppenarbeit mit Einfühlungsvermögen zuordnen.

3. Argument – Impulse aus PISA ?

Welche Impulse können aus dem Aufbruch der Bildungsverwaltungen nach PISA gewonnen werden?

Das zu beantworten erfordert einen genaueren Blick auf dieses in seinem Anspruch gewaltige Projekt der OECD, einer Organisation, die an sich die wirtschaftliche, nicht die bildungspolitische Zusammenarbeit in Europa fördern soll. Der „genauere Blick“ führt zu Ergebnissen, die dem hier eingeschlagenen Gedankengang weiterführende Anregungen geben, die in der manchmal polarisierenden Diskussion der Öffentlichkeit nicht angemessen gewichtet werden.

http://www.oecd.org/pisa/

Die internationalen Bildungsvergleiche haben nicht auf die Förderung der einzelnen SuS gezielt, sondern auf das Bildungswesen als Ganzes. Die Testergebnisse der untersuchten Jahrgangsstufen sollten belegen, was bei dem Unterricht – wie immer er gehalten wurde – herausgekommen ist. Genau auf dieser Ebene liegt auch die Strategie der jetzt an die Bildungsvergleiche anschließenden Reform: Sie legt Erwartungen darüber fest, was bei dem Unterricht – wie immer er gehalten wird – herauskommen soll. Diese Erwartungen werden für überfachliche und fachliche Ziele so beschrieben, dass sie überprüfbar sind (Bildungsstan­dards). Die Reform soll das Bildungswesen also steuern, indem sie die Ergebnisse vorschreibt, nicht aber die Wege dahin (Outcome-Orientierung). Die Verantwortung für deren Gestaltung wird stärker als zuvor den Schulen überlassen  (Klieme, Eckhard u.a., Hg, 2007. Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Bildungsforschung Bd. 1. BMBW, S. 50, 123).  Für die Suche nach mehr Flexibilität bei der Schülerorganisation ist das eine Erweiterung des Denkraums.

Allerdings ist diese Chance sogleich dadurch belastet, dass die Schulen auf ein Ziel hinarbeiten müssen, das möglicherweise zu hoch gesteckt ist.

Zunächst fällt auf, dass sich – von der Logik her – Klassenunterricht und Bildungsstandards gegensätzlich verhalten: Der für alle SuS  gleiche Weg des traditionellen Klassenunterrichts führt bei individuellen SuS zu je verschiedenen Ergebnissen. Bildungsstandards dagegen zielen auf vergleichbare Ergebnisse bei Freigabe, also mögliche Verschiedenheit der Wege.

Von dieser Logik aus gesehen sollte ein kompetenzorientierter (s.u.) und an Bildungsstan­dards ausgerichteter Unterricht individualisierende Wege des Lernens wählen. Die Schulen müssen ihre neue Freiheit in eine Veränderung des täglichen Unterrichts investieren, um SuS mit verschiedenen Lernvoraussetzungen das Erreichen  vergleichbarer Ziele zu ermöglichen. (Diese Herausforderung bleibt grundsätzlich auch dann bestehen, wenn die Standards als Mindeststandards beschrieben werden.)

Grund für die Sorge, dass das Ziel zu hoch gesteckt sein könnte, ist aber vor allem die Fassung der Outcome-Erwartungen als Kompetenzen.

Der schwierige Begriff der Kompetenz in der richtunggebenden Fassung von Franz Weinert: Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (zit. nach Herrmann, 2013, S. 12).

Klieme u.a. verschieben die subjektiven Merkmale in den Begriff der Disposition und kommen so zu einer kürzeren Definition: „Kompetenz ist eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ (Klieme, Eckhard u.a. (Hg), 2010. Kompetenzmodellierung. ZfP, 56. Beiheft, S. 10).

Die Lehrerin, die über eine Veränderung ihres Religionsunterrichts nachgedacht hat, hat vermutlich in eine solche Richtung gedacht. Vielleicht stand ihr vor Augen, was nach der Definition von Weinert der Output ihres Unterrichts hätte sein sollen, etwa: Fähigkeit und Bereitschaft, mit den persönlichen Fragen nach Gott umzugehen und mit anderen Menschen wertschätzend, kritisch und tolerant über Religion zu sprechen. – Ein solcher „Output“ ist nicht durch Lehre zu entwickeln, er kann nur Resultat von Erfahrung, also von Handeln sein. Er enthält Wissen, das zu Können entwickelt ist und Fähigkeiten, die zum Handelnwollen entwickelt sind, und Werthaltungen, die dem Handeln Maß und Richtung geben.

In den letzten Jahren haben Erziehungswissenschaftler in Forschungsinstituten und Mitarbeiter der Bildungsverwaltungen in den Ministerien und Schulämtern daran gearbeitet, die Erwartungen aus Fachunterricht fachlich und überfachlich als Kompetenzen zu fassen, diese mit Bildungsstandards zu beschreiben und mit Aufgabenbeispielen zu veranschaulichen – eine überaus an­spruchsvolle Aufgabe. Die empirisch orientierte Erziehungswissenschaft der Republik hat sich daher in vernetzten Forschungsbemühungen unter Einsatz von bedeutenden Forschungsmitteln daran gemacht, Kompetenzen „zu modellieren“, sie also für die Fächer und Schulstufen in Aufgaben umzusetzen und die Ergebnisse den Bildungsverwaltungen der Länder an die Hand zu geben. Institute für Qualitätssicherung in den Ländern und das zentrale Institut des Bundes in Berlin wachen über die Umsetzung und stehen so den Schulen mit ihrer neuen Freiheit evaluierend gegenüber.

Seit Menschengedenken und aus guten Gründen beanspruchen LuL ein hohes Maß von Entscheidungsspielraum bei ihrer Unterrichtsgestaltung; im Binnenraum ihrer Klassen können sie sehr flexibel handeln. Das kommt, wie oben festgehalten, dem Ansatz mit Bildungsstan­dards zwar entgegen. Im Kontext von Schulreform erwächst daraus aber eine Macht, die immer wieder übersehen wird, obwohl sie viele aufwändige Versuche zur Veränderung von Schule zunichte gemacht hat: die Beständigkeit von Traditionen. Traditionelle Unterrichtsrou­tinen sind widerstandsfähig gegen Reformen. Schulen haben in der Vergangenheit in ihrem Kerngeschäft, dem Unterricht,  den allergrößten Gleichmut gegenüber den Anstrengungen von Politik und Erziehungswissenschaft aufgebracht, so dass Veränderungen in der Öffent­lich­keit vor allem als organisatorische Reformen des Systems wahrgenommen worden sind, die den Unterricht nur marginal berührt haben. (Das betraf in den 50er und 60er Jahren unter anderen auch den Versuch von Heinrich Roth, das zu erreichen, was heute die an PISA Deutschland Beteiligten versuchen, nämlich die Erziehungswissenschaft auf empirische Grundlagen zu stellen und die Entwicklung der SuS im Bildungsprozess mit einem System von Kompetenzen zu beschreiben.)

Individuelle Förderung als Konsequenz

Einer der Mitautoren von PISA Deutschland, Eckard Klieme, geht auf die Herausforderung individuell zu fördern ein, allerdings nicht bei der strukturellen Reibung von Schülerheterogenität, Regelunterricht und Standards, sondern bei der Überlegung, ob die auf das System bezogene Schulevaluation auch einen Gewinn für individuelle SuS bringe.  „Ein Testinstrument, das für Zwecke des Monitorings und der Evaluation gut ist, muss nicht unbedingt individuelle Testfairness garantieren. Andererseits beruhen die standardbezogenen Tests auf Modellen der individuellen Kompetenzentwicklung und sind daher hervorragend geeignet, auch für individualdiagnostische Zwecke eingesetzt zu werden“ (Klieme u.a., 2007, a.a.O, S. 108). Die Schule verpflichtet sich gegenüber SuS und Elternhäusern, „auf bestimmte Ziele hinzuarbeiten und dafür Fördermaßnahmen bereitzustellen. Standards können damit einen Bezugspunkt bilden für Gespräche zwischen Eltern, Schülern und Lehrern. Unter Berufung auf klare und verbindliche Erwartungen wird es möglich, den individuellen Lernweg zu planen, Lernhindernisse zu erkennen und bestmögliche Fördermöglichkeiten abzusprechen“ (ebda., S. 48).

Das ist nun für unsere Annahmen über Unterrichtsbedingungen eine unterstützende Information. Der Verschiedenheit der Outputs bei Regelunterricht soll entgegengewirkt  werden, indem die individuellen Ergebnisse für Diagnostik, Förderung, Evaluation und Feedback eingesetzt werden.

Das  „Problem der Vielen und der Wenigen“, Inklusion und Outcome-Orientierung haben das Strukturproblem gemeinsam, dass der Regelunterricht in Klassen nachteilig wirkt. Die beiden politisch neu gesetzten Ziele (Inklusion und Bildungsstandards) verstärken endlich wieder die Aufmerksamkeit für  „individuelle Förderung“ und öffnen damit auch neue Chancen für das traditionelle Problem der Schulklassen, das der Vielen und der Wenigen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat bereits 2009 einen Gesprächskreis zum Thema angesetzt.  Aus den Beiträgen dieser Veranstaltung ergibt sich ein Überblick, in welche Richtung die Meinungen zu individueller Förderung gehen. Dabei können hier die bekannten traditionell-reformpädagogischen  Bemühungen übergangen werden, um  in der Richtung der hier angenommenen Unterrichtsbedingungen weiter zu fragen. (Zur Dokumentation)

Eine Richtung geht davon aus, dass individuelle Förderung vor allem die Wenigen, nicht die Vielen betreffe, etwa Fischer (Institut für Pädagogische Professionalität und Schulkultur in Luzern). Besonders leistungsstarke oder -schwache SuS und solche mit bestimmten Einschränkungen oder Handicaps erhalten Förderungen neben dem fortbestehenden Klassenunterricht der Vielen (z.B. Drehtürmodell). Fischer verallgemeinert dabei seine Erfahrungen aus der Hochbegabtenförderung, ein Ansatz, den auch das hessische Amt für Lehrerbildung 2011 mit einer Workshop-Tagung „Lernen aus der Hochbegabtenförderung für individuelle Förderung“ gewählt hat. (Zur Dokumentation)

Eine andere, in dem Gesprächskreis der Bertelsmann-Stiftung vorherrschende Richtung geht davon aus, dass Heterogenität immer als Ausgangssituation aller SuS vorhanden ist, so dass auch der Auftrag der Schule sei, die individuelle Lernausgangslage jeder Schülerin und jedes Schülers mit den Lernbedingungen der Schule zusammen zu führen (Anpassung der Nichtpassung). Eine Lehrerin aus einer für das Thema engagierten Schule spitzt die Anforderung zu: 30 Arbeitspläne für 30 Schüler. Und Klieme bringt das auf den Punkt: Das Problem bestehe darin, dass man es immer mit Klassen zu tun habe, und nicht mit einzelnen SuS. – Lösungsmöglichkeiten werden jedoch  wieder –  unter Beibehalt der Klassenstruktur – in der inneren Differenzierung der Klassenverbände gesehen (Gruppen- und Einzelarbeit, jahrgangsübergreifende oder altersgemischte Klassen, Kooperation von Parallelklassen).

Der Ausgangspunkt Heterogenität und deren Erhaltung

Aus dem Unterricht ausgeklinkt

Wenn LuL den Unterricht für ihre Klassen planen, haben sie eine Verteilung der Leistungsfähigkeit vor Augen, innerhalb derer ihr Lernangebot fordernd, aber nicht überfordernd ist (mittleres Anspruchsniveau). Die SuS innerhalb der Verteilung werden insofern als homogen angenommen, die SuS außerhalb als abweichend. Die Denkbewegung geht auf Homogenität und stellt die abweichenden SuS vorläufig nach außerhalb der Unterrichtsplanung. – Umgekehrt verläuft die Denkbewegung bei individueller Förderung: Der Zusammenhang von Unterrichtsplanung und mittlerem Anspruchsniveau entfällt, die Heterogenität des Schülergesamts wird zum Ausgangspunkt der Planung. Die zugehörige Sozialform ist individuelle Arbeit, eine auch im Rahmen des Klassenunterrichts oft gewählte Form. Die in dem Gedankenexperiment unterstellten Gegebenheiten (s. Kasten „was wäre, wenn …“) führen aber zu dem entscheidenden Unterschied, dass die individuellen Arbeitsergebnisse nicht wieder in den gemeinsamen Lernstand einer Klasse zusammengeführt werden, sondern als Normalform von Heterogenität erhalten bleiben. Das  Ziel der Arbeit mit Heterogenität ist in diesem Fall nicht deren Homogenisierung, sondern der Fortbestand von Verschiedenheit.

Dabei besteht Verschiedenheit nicht allein in der Leistung. Ein bekannter amerikanischer Erziehungswissenschaftler, der sich auf seinem Weg vor allem um Hochbegabte gekümmert hat, Joseph Renzulli, hat 2002 an einem us-amerikanischen Curriculumentwurf mitgearbeitet, der den gemeinsamen Unterricht für alle Begabungsstufen vorschlägt, das sogenannte Parallelcurriculum. Leider wird es im Zusammenhang mit der Kompetenzpädagogik nicht beachtet, obwohl es in vergleichbare Richtung arbeitet. Konstitutiv sind vier unterschiedliche didaktische Zielrichtungen für ein und denselben Lerninhalt; diese können nacheinander oder nebeneinander für einige oder für Alle angesteuert werden:

  • Das Erfassen der Sache selbst (Basiscurriculum),
  • deren Verknüpfung mit Weiterem (Curriculum der Verknüpfung),
  • der Umgang mit den zugehörigen fachlichen Denkweisen und Methoden (Curriculum der Anwendung),
  • schließlich die Beziehung zwischen Sache und Individuum (Curriculum der Identität).
Eine Chance auch für deutsche Schulen! Bitte klicken!

Im Rahmen der individuellen Förderung entscheiden LuL, ausgehend von dem Lernstand der SuS und von ihren Begabungen und Interessen, auf welche Parallele sie deren weitere Arbeit leiten.  Mit dieser Diversifizierung wird die Reaktion auf individuelle Lernbedürfnisse reichhaltiger und flexibler, und sie führt zu einer Verarbeitung des zu Lernenden über das Basiscurriculum hinaus bis hin zu der Ebene der fachlichen Disposition (persönlich gewichtete Handlungs­möglichkeiten auf der Basis des Gelernten). Daraus ergibt sich aber auch ganz klar, dass mit individueller Förderung die Unterschiede zwischen den SuS größer werden, Heterogenität verstärkt sich und kann schließlich auch als didaktisches Potential in vielfältiger Weise eingesetzt werden, ganz besonders in einem ausgebauten System von „Lernen durch Lehren“.

 Exkurs: Die viel beachtete Hattie-Studie hatte das Ziel, die besonders wirksamen Bedingungen für Lernerfolg von weniger wirksamen oder gar schädlichen zu unterscheiden. Ohne hier näher auf die Arbeit einzugehen, soll die Bedingung, die mit Abstand vor allen anderen als wirksamste bezeichnet wurde, mit der skizzierten individuellen Förderung in Beziehung gesetzt werden: Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus. Weiter oben wurde angesprochen, dass das „Problem der Vielen und der Wenigen“  eben darin besteht, dass für die Wenigen die Möglichkeit, zu einer realistischen Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus zu gelangen, versperrt wird. Mit einer individuellen Förderung, die nicht wieder in Homogenisierung der Heterogenität mündet, wird die Möglichkeit zur Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung maximal geöffnet. (hier zur Rangliste)

Die Suche nach Fokussierung innerhalb der Heterogenität

Wenn sich die Heterogenität der SuS durch individuelle Förderung verstärkt, wird ein Taktgeber gebraucht, der das Lernen der verschiedenen Jahrgangsstufen koordiniert. In den Renzulli-Parallelen kommt diese Funktion dem Basis-Curriculum zu. Als Taktgeber sollte es das Lernen der vielen Einzelnen nicht nur einleiten, sondern als Grundlage begleiten. Um diesen Fokus herum können die Lernwege der SuS sich in verschiedenem Maß erweitern oder eben auch nahe bei der Basis verharren.

In der Schulpädagogik und ihrer Förderumgebung haben offene Unterrichtsformen einen geradezu dogmatisch betonten Wert. In den hier angenommenen  Unterrichtsbedingungen (s. Kasten „was wäre, wenn …“) lassen wir für das Basis-Curriculum zu, dass dieser Wert verletzt und das Gegenteil getan wird: Zentralisierung, Fokussierung, Einschränkung der Freiheitsgrade – eine Lernsituation, in der nur die Lehrkraft spricht, die SuS hören und sich bemühen, das Gehörte für sich zu sichern. Nicht mehr als drei solcher Einheiten sollten in einer Ganztagsschule pro Tag geboten werden; sie sollten weitergeführt werden mit  individuellem Arbeiten, in dem das Gebotene durchgearbeitet und bei entsprechendem Leistungsniveau ausgeweitet und überschritten wird; und dem kooperativen Arbeiten, in dem das Gesicherte in projektbezogen wechselnden Kleingruppen exemplarisch angewendet wird.

Ein bestimmter Schüler könnte also an einem Schultag eine seiner (für die Fächer verschiedenen) Kooperationsgruppen treffen, dann gemeinsam mit Allen, die fachlich auf seinem Lernniveau arbeiten, an einem Wissensinput teilnehmen, dessen Inhalte anschließend in individueller Arbeit nach-denken, anwenden und weiterführen (auf einer der vier Renzulli-Parallelen), dann eine weitere Kooperationsgruppe aufsuchen … .

Flexibilität und soziale Ankerung

Daraus entsteht eine hohe Flexibilität für die Lernwege der einzelnen SuS und damit für die Sozialform ihres Lernens, eine wichtige Voraussetzung für das Ziel, auch SuS mit besonderen Bedürfnissen mit zu nehmen. Zunächst ist wichtig, dass mit der vorgeschlagenen Arbeitsweise die Logik der kommunizierenden Röhren (wenn LuL einzelne SuS fördern, dann entziehen sie ihrer Klasse einen Teil ihrer Unterstützung) außer Kraft gesetzt ist. Individuelles Arbeiten als Standardform des Unterrichts erlaubt es jederzeit, SuS in schwierigen Situationen einen Rückzugsort zuzuweisen, an dem sie die anderen nicht stören. Positiv gewendet: Sie können sich bei Überforderung durch belastende Situationen zurückziehen und Rat und Hilfe eines/r der LuL erhalten, ohne dass gleichzeitig die anderen SuS angehalten werden. Die Projektgruppen können so zusammengesetzt werden, dass Herausforderungen des Problemkindes vermieden werden können. Die frontale Darbietung des Basis-Curriculums selbst minimiert soziale Prozesse in der Gruppe aufgrund der unkommunikativen Rahmenbedingungen.

Flexibilität als geschätztes Merkmal der Lernsituation für alle SuS bedarf aber auch eines Gegengewichtes. Die kooperativen Forschungs- und Gesprächsgruppen bieten mit einem Viertel der Unterrichtszeit Gelegenheit für Begegnungen; verstärkt werden sollte sie aber mit einer Arbeitsform, die über ein Halbjahr konstant bleibt und Freiräume für gemeinsames Handeln bietet: den Profilgruppen. Sie setzen sich aus etwa zehn SuS der jeweiligen Doppelstufe zusammen und treffen sich an zwei Nachmittagen der Woche. Sie arbeiten an fächerverbindenden Projekten, die am Ende des Halbjahres zu einem „Produkt“ führen (Text, Aufführung, Forschungsergebnis, handwerkliche Arbeit … . Profile sind in diesem Kontext Zusammenfassungen von Fächern, die zur Wahl stehen und für die SuS zu individuellen Schwerpunktbildungen führen sollen. Alle Profile enthalten entweder Kunst oder Musik oder Sport.)

Zum Schluss

fotalia #86330760

Diese Schule ohne Klassen, mit viel Eigenverantwortung der SuS und einer veränderten Rolle der LuL wird zusammen gehalten und ermöglicht durch die Einübung in eine Fähigkeit, die über allen Facetten des unterrichtlichen Geschehens steht und sie durchdringt: das Kritische Denken; ein Unterrichtsziel, das im angelsächsischen Sprachraum sowohl den common sense als auch die Vorstellung der „men as scientists“ umfasst, also ausdrückt, dass der unverstellte Verstand eines Menschen in Situationen, in denen er Irrtum vermeiden möchte, keinen anderen Weg geht als den ein Wissenschaftler gehen würde, wenn auch weniger elaboriert. In den USA, Kanada, Großbritannien … ist Critical Thinking ein obligatorischer Unterricht, der nicht in erster Linie als Basis der Studierfähigkeit, sondern als notwendige Vorbereitung auf die Partizipation als Bürger gilt. Die neue Schulstruktur stellt besondere Ansprüche an die Beobachtung im und die Kommunikation über das unterrichtliche Geschehen. Diese Aufgaben werden zum Thema im Kritischen Denken.

In Deutschland gab es einen Versuch, dieses Ziel als Wissenschaftliche Grundbildung in eine ähnliche Funktion zu bringen, ein Versuch, der in der Auseinandersetzung um die Bildungsreformen der 70er Jahre zerredet und umgedeutet wurde. (dazu Näheres)

Eine der größten Chancen der gegenwärtigen Kompetenzorientierung von unterrichtlichen Zielen liegt darin, dass dieses Ziel unter neuem Namen, z.B. literacy, wieder erkennbar wird und damit der Beitrag des Fachlichen zur Bildung  mindestens in den Formulierungen der Arbeitstexte als verpflichtender Auftrag sichtbar wird.

Aus dem Voranstehenden wird deutlich, es geht nicht um das „Was wäre, wenn …“, sondern darum, etwas zu tun, ein schulorganisatorisches Modell zu schaffen, in dem diese Strukturen wirken und die Ergebnisse untersucht werden können.