Kritisches Denken – Bildungspolitische Einordnung und praktische Beispiele

Kritisches Denken – Bildungspolitische Einordnung und praktische Beispiele

Anne Eckerle           Vortrag in der U3L Frankfurt 2011, überarbeitet  Dezember 2017

Kritisches Denken zielt auf die Umgestaltung des Denkhandelns, inhaltliches Lernen auf die Veränderung des Wissensvorrats.

Wenn Denken das Handeln des Wissens ist – wie der amerikanische Psychologe Ulrich Neisser es gefasst hat – dann kann mit dem Begriffspaar Struktur und Prozess dem Wissen die Struktur, dem Denken der Prozess zugewiesen werden. Damit ergibt sich die Frage nach der Beziehung zwischen beidem: Ist die Struktur das Ergebnis des Prozesses? Das Wissen also Ergebnis des Denkens? Oder fordert die Beschaffenheit des Wissens eine bestimmte Weise des Denkens? Und wie spezifisch wäre dann die jeweilige Form des Denkens an das Wissensstück gebunden?

Wenn Bildung eine materiale und eine formale (formative) Seite hat – wie die Arbeitsschulbewegung  um Hugo Gaudig das unterschieden hat  – dann kann der materialen die Struktur/das Wissen, der formativen der Prozess/das Denken zugewiesen werden. Als Bestandteile von Bildung ist dieses Begriffspaar aber auf die subjektive Seite des Gebildeten zu beziehen, während Neissers Begriffspaar die Betrachtung des Psychologen von außen zulässt. Das Materiale wäre dann das Wissen –   in der persönlichen Vernetzung, versehen mit den subjektiven Einstellungen, wie sie sich aus den biografischen Umständen des Wissenserwerbs ergeben; das Formale die Kompetenz zum Umgang damit, gewachsen entweder  in den persönlichen Begegnungen mit den Phänomenen, auf die sich das Wissen bezieht, oder übernommen als prozessbezogener Teil des Wissens, wenn es Teil des Unterrichts war. Auf dem Weg zum Handeln wird diese Kompetenz dann ausgerichtet  von den Einstellungen und Selbstwirksamkeitvorstellungen des Gebildeten. Wie steht die materiale Seite in Beziehung zu dem unterrichteten Wissen?  In welchem Verhältnis steht sie zur formalen Kompetenz? Ist die Kompetenz zum Denkhandeln mit dem Wissen an bestimmte Wissensstücke gebunden oder frei transferierbar?

Ich lasse es bei diesen Theorieframes. Jeder davon ruft einen großen Teil der wissenschaftlichen Didaktik auf den Plan. Die aktuelle Kompetenzdebatte klärt diese Fragen nicht oder nicht widerspruchsfrei. In solchen Situationen ist es richtig, klare Ausgangsgrundlagen zu benennen, unter Verzicht auf zwingende Ableitungen, sondern auf der Basis von Setzungen.

Ein Vortrag über das Kritische Denken setzt den Bezugsrahmen der angelsächsischen und speziell der us-amerikanischen Wissenschaftsphilosophie und Erziehungswissenschaft an. Und er setzt eine Vorstellung darüber an, dass die Verlässlichkeit der Erziehungswissenschaft an ihren Wirkungen in der Realität belegt werden muss.

Die Frage, in welchem Verhältnis Wissen und Denken stehen, ist dann im Sinne Deweys klar zu beantworten.

Bei wissenschaftlichem Wissen “ geht es … um Inhalte, die aus methodischer Arbeit hervorgegangen sind – sie sind ausgewählt und ange­ordnet un­ter Berücksichtigung von normativen intellektuellen Kriterien. Daher ist Methode im Inhalt selbst – Methode auf der höchsten Stufe, die menschliches Denken bis jetzt er­reicht hat: wissen­schaftliche Methode. …  –  Es kann nicht genug betont werden, dass die wissenschaftliche Methode die Methode menschlichen Geistes selbst ist. Die Zuordnungen, Interpreta­tionen und Ver­allgemeine­rungen liegen nicht äußerlich in den Fakten, die vom Denken zu unter­scheiden wären. Sie geben Einstellungen und Arbeitsergebnisse unseres Denkens wieder, die bei dessen Versuch entstanden sind, das Rohmate­rial der Erfahrung zu einem Punkt zu entwickeln, an dem es den Be­dürfnissen akti­ven Denkens entspricht und diese anregt. … (S. 263) –   Es  ist die Auf­gabe der Schulen wie auch der Lehrerbil­dung, wissenschaftli­ches Wissen … in den Fächern … so an­zubieten, dass der Schü­ler sieht und spürt, dass diese Unterrichtsgegenstände signifi­kante Verkörperungen geistigen Tuns sind. Er sollte an­geleitet werden zu entdecken, dass sie nicht Ergebnisse sozu­sagen technischer Methoden sind, die zum Nutzen spezieller Wissensbereiche … entwickelt wurden, sondern dass sie grund­legende Einstellungen und Handlungs­weisen un­seres Den­kens repräsentieren – dass in Wirklichkeit bestimmte wissen­schaftliche Methoden und Zuordnungen in ihrer konkretesten Form ein­fach darstellen und erhellen, was schlichte und allge­mein verfügbare Formen der gedanklichen Aktivität vermögen, wenn die Bedingungen günstig sind. … (S. 264) –  … es ist Aufgabe zu­künftiger Lehrerausbild­ner, die In­halte des Lehrens zu deren allgemeinen psychischen Grundla­gen zurückzubringen … ( S. 265)( (The middle works: Theory into Practice, übers. v.Eckerle)

Wissenschaftliches Wissen ist hier das Ergebnis des Denkens, das sich nach wissenschaftlichen Kriterien richtet (Methode). Daher kann die Methode im Inhalt auch wieder freigelegt werden. Die Methode macht den wissenschaftlichen Gegenstand.

Das Denken, das sich wissenschaftlich ausrichtet, ist das allgemeine Denken des menschlichen Geistes bei der Anstrengung, die Realität verlässlich zu erfassen. Die Methode ist das allgemein verfügbare Denken der Menschen, dass sich ausgerüstet hat mit Kriterien für die Verlässlichkeit seiner Ergebnisse.

Kritisches Denken ist insofern die Entwicklung des spontanen Denkens mit Hilfe des wissenschaftlichen Denkens. Einen Gegensatz zwischen wissenschaftlichem und spontanem Denken mag es in der Lebenswelt geben  –  das bleibt unberührt; im Kritischen Denken aber macht das spontane Denken die Anstrengung, sich selbst unter Kontrolle zu bringen und in Selbstreflexion auszuformen.

Was die subjektive Färbung des Wissens und die biografische Ausformung des Denkens in der Perspektive des Begriffspaares formal/material angeht, kann das kritische Denken als Leitplanke des Denkens aufgefasst werden, die Kriterien der Verlässlichkeit begleitend im Bewusstsein zu halten und ihnen die Führungsrolle zu überlassen.

Differenzen im Basisverständnis

Zwei Beispiele aus der PISA-Umgebung zeigen den Bruch zwischen den angelsächsischen und deutschen Vorstellungen bei der Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Denken.

Die PISA Arbeitsstelle der OECD  (The PISA 2003 Assessment Framework) führt aus, dass es bei den Untersuchungen nicht darum gehe, Wissen in ganzer Breite zu erheben, sondern nennt Kriterien für die Auswahl von Wissen. Dem ausgewählten stellt sie Denkhandlungen (mental actions) gegenüber, die zum Verstehen, Beschaffen, Interpretieren von Daten erforderlich sind. Die Denkhandlungen konkretisieren sich zwar immer an Inhalten, es besteht aber kein Zuordnungsverhältnis. Sie werden zu wissenschaftlichen (Denkhandlungen), wenn die Inhalte wissenschaftliche sind und die Ergebnisse zu weiterem wissenschaftlichem Verstehen führen (S. 136 f). Die Denkhandlungen heben also im Sinne von Dewey den methodischen Ausgangspunkt des Wissens hervor, nicht einen inhaltlichen.

Mathematische Grundbildung, Naturwissenschaftliche Grundbildung …

Für das deutsche PISA-Konsortium gilt dagegen ein anderes Verständnis, nach dem Kompetenz (literacy – die Möglichkeit, erlerntes Wissen in Anwendungsfeldern einzusetzen) auf bereichsspezifischem Wissen beruht (S. 33). – Die Konzeption der Untersuchung orientiert sich an zwei Wissensbereichen, dem Konzeptwissen(„Wissen, dass“) und dem Prozesswissen („Wissen, wie“), dessen Weg vom Wissen zur Kompetenz nicht erörtert, sondern kraft erfolgter Information vorausgesetzt wird (S. 35) (Prenzel, M. u.a., 2008). 

Kompetenzorientierung und Kerncurriculum

Kompetenz

Im Kompetenzbegriff sollen nach den Entwürfen der KMK Wissen und Denkhandeln zusammenfließen zu Können in Anwendungssituationen, die vorzugsweise nicht in einem Fach, sondern in alltagspraktischen Feldern liegen.

„Unter Kompetenzen werden erlernbare, auf Wissen begründete Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, die eine erfolgreiche Bewältigung bestimmter Anforderungssituationen ermöglichen. Hinzu kommen die dafür erforderliche motivationale Bereitschaft, Einstellungsdispositionen und soziale Fähigkeiten. Diese Anforderungssituationen beziehen sich beispielsweise auf alltagspraktische Aufgaben, aber auch auf die kulturelle Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler.“

KMK, IQ, Mai 2010. Konzeption der KMK zur Nutzung der Bildungsstandards für die Unterrichtsentwicklung.

In Hessen dagegen werden die Kompetenzen nicht an bestimmte Inhalte gebunden, wenngleich sie ohne Inhalte nicht vorstellbar seien. „In Hessen hat man sich für einen anderen Weg entschieden: Die Standards (also Kompetenzen in bestimmten Ausprägungen) sind weitgehend inhaltsunabhängig formuliert. Den Bildungsstandards werden stattdessen in jedem Fach Inhaltsfelder (ergänzende inhaltliche Festlegungen) beigefügt, in denen wesentliche inhaltliche Zusammenhänge dargestellt sind, die sich an den grundlegenden inhaltlichen Konzepten des jeweiligen Faches ausrichten.“ (Bildungsstandards und Inhaltsfelder – das neue Kerncurriculum für Hessen, S. 9

Bildungsstandards

Bildungsstandards benennen den Ausprägungsgrad einer Kompetenz, über die Kinder und Jugendliche am Ende eines Bildungsganges (auf einen Abschluss bezogen) verfügen sollen. Bildungsstandards sind als Regelstandards formuliert, sie beschreiben ein mittleres Anforderungsniveau. Anders als Lehrpläne sind die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) keine Sammlungen zu vermittelnder Inhalte, sondern sie benennen fachbezogene und fachübergreifende Kompetenzen mit thematisch-inhaltlichen Bezügen. – Der Erwerb einer Kompetenz und ihr jeweiliger Ausprägungsgrad zeigen sich in der Fähigkeit, Aufgaben zu lösen, deren Anforderungsprofil nicht einfach erlerntes Wissen abfragt, sondern transferorientiert Problemlösungen fordert, die ein Verstehen des jeweiligen Zusammenhangs voraussetzen. Kompetenzen werden in diesem Zusammenhang verstanden als Verbindung von Wissen und Können.

Kerncurriculum

Das Kerncurriculum legt in Form von Bildungstandards fest, welches Können in welchen Fächern an welchen Stufen des Bildungsprozesses erbracht werden soll. Diesen Könnenserwartungen ordnet es Inhaltsfelder zu, die mit fachlichen, vor allem aber fachdidaktischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden (nach ihrer Eignung zum Kompetenzerwerb). Die durch Standards definierten Könnenserwartungen und die ihnen zugeordneten Inhaltsfelder bilden das Kerncurriculum, das für alle Schulformen bis Ende der Jgst. 10 verbindlich ist.

Sie (die Inhaltsfelder) repräsentieren die durch fachsystematische, fachdidaktische und unterrichtspraktische Zugänge gesicherten Wissensgebiete eines Faches. Die Auswahl der Inhaltsfelder erfolgt unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung für den Kompetenzerwerb. Die inhaltsbezogenen Aussagen sind dabei begrenzt und wenig detailliert (S. 11 http://lakk.bildung.hessen.de/hkm/bks/bs-inhaltsfelder/Basistext1_31032010.pdf)

In dem hessischen Kerncurriculum bilden überfachliche Kompetenzen einen wesentlichen Teil (S. 10).  Überfachliche Kompetenzen sind in allen Bereichen des privaten und beruflichen Lebens und des Lernens von Bedeutung und eine wesentliche Voraussetzung für die (Selbst-) Aneignung von „Welt“. Alle Fächer sind gleichermaßen dafür verantwortlich – über den Erwerb fachlicher Kompetenzen hinaus – den Erwerb überfachlicher Kompetenzen zu ermöglichen und zu fördern. Überfachliche Kompetenzen werden sowohl in fachlichen als auch in fachübergreifenden Zusammenhängen erworben. Im vorliegenden hessischen Konzept werden für die Primarstufe und die Sekundarstufe I jeweils überfachliche Standards in folgenden vier Kompetenzbereichen ausgewiesen: (1) Personale Kompetenz, (2) Soziale Kompetenz, (3) Lern- und Arbeitskompetenz sowie (4) Sprachkompetenz (S. 11 Kerncurriculum).

In dem Kompetenzbereich Lern- und Arbeitskompetenz finden wir einen Ansatzpunkt für das Kritische Denken als explizit benanntes Ziel.

  • Lernkompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, variable Anforderungssituationen und Aufgaben mithilfe geeigneter Strategien zu erschließen sowie den Lernprozess und seine Ergebnisse angemessen reflektieren zu können. Bei ihrem Aufbau ist es wichtig, neben den jeweils zu erwerbenden fachlichen Kompetenzen auch das „Lernen und Reflektieren des Lernens“ selbst bewusst zu machen (Erwerb „metakognitiver Kompetenz“).
  • Problemlösekompetenz zeigt sich darin, Probleme zu analysieren, (alternative) Lösungswege zu planen und letztlich Entscheidungen zu treffen.
  • Arbeitskompetenz ermöglicht es, Arbeitsprozesse sachgerecht zu planen, Ressourcen angemessen zu nutzen und Lernstrategien bewusst einzusetzen.
  • Medienkompetenz ist für die Erschließung von Informationen sowie zur Dokumentation von Ergebnissen notwendig. Die differenzierte und zugleich kritische Nutzung Neuer Medien gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung.

Abschließend zu dieser bildungstheoretischen Tour ein Modell, das für Hessen noch mehr als für die KMK Bedeutung hat, weil ausdrücklich Standards für alle Fächer und auch für die Sek II vorgelegt werden sollen. Dabei ist die Kompetenzentwicklung langfristiges und kumulatives Ziel aller Fächer über alle Jahrgangsstufen hinweg. Kritisches Denken wäre demnach fächerübergreifend zu entwickeln in einem situierten Unterrichtsarrangement, das für die Kompetenzentwicklung gefordert wird:

„Bei der Entwicklung von Lernarrangements ist es unabdingbar, dass auf eine überzeugende Passung der jeweils aktuellen Unterrichtsinhalte geachtet wird: Die Lernarrangements müssen an die Lernausgangslagen der Lernenden anknüpfen, auf vorhandenes Können und Wissen aufbauen, zum Verständnis des neuen Inhalts geeignet sein und eine Anschlussfähigkeit für die Fortführung des Lernprozesses in der Zukunft im Sinne einer erweiterten Komplexität ermöglichen.

Die Erstbegegnung mit wissenschaftlichem Arbeiten

In dem Buch eines preisgekrönten amerikanischen Lehrers findet sich eine Anleitung, wie die Erstbegegnung von Schülerinnen und Schülern mit wissenschaftlichem Arbeiten gestaltet werden kann.

Wie Charles Pearce vorgegangen ist

Einige Grundsätze vorweg: Wenn man Schülerinnen und Schüler ohne Anweisung arbeiten lässt, gehen sie in verschiedene Richtungen. Das betrifft die Themenwahl, die Komplexität, die Art der Fragenstellung, den Mut gegenüber Unsicherheit und Vieles mehr. Manche arbeiten gern für sich, Andere interessieren sich auch für das, was ein Freund mit ähnlicher oder sonstwie auffälliger Themenwahl machen, und Manche ziehen es vor, mit einem Mitschüler zusammen zu arbeiten. Enge Anweisungen übergehen solche Tendenzen und schwächen so die Spontaneität.

Formale Anforderungen dagegen sollten für Alle vereinbart werden, damit Abläufe, die Orientierung geben, gesichert werden und den Erfolg der Schülerinnen und Schüler unterstützen. Dazu gehören Verhaltensroutinen, Dokumentation, Präsentation und Auseinandersetzung.

Hinweis

Dieses Vorgehen eignet sich für Kinder ab acht Jahre und kann – bei angepasster Sprache und Animation – bis zum Ende der Schulzeit angewendet werden.

Jetzt ganz konkret in eine erste Stunde: Die Schüler schreiben in einem Brainstorming von drei Minuten (!) auf, was ihrer Meinung nach Wissenschaftler tun. Sie lesen ihre Stichwortsammlungen vor. Der Lehrer steuert hin auf die Frage: Tun das nur Wissenschaftler?

Beispiele für das, was den Schülern einfallen könnte: experimentieren, entdecken, zusammenmischen, Fragen stellen, Bücher lesen, Texte schreiben, Diagramme zeichnen, Zahlen auflisten …

Möglichkeit der Steuerung: Nach dem Vorlesen der ersten Listen eine Zäsur machen und bei den nächsten Schülern die Stichwörter prüfen lassen: Tun das nur Wissenschaftler?

Die Geschichte von dem klugen Raben wird erzählt: Er wurde in eine Familie aufgenommen, als die Kinder klein waren. Er spielte mit ihnen und den Nachbarskindern. Als die Kinder eine Rutschbahn hinunter rutschten, versuchte auch er es, aber seine Krallen waren ihm im Weg. Er holte sich den Deckel eines Einweg-Kaffeebechers, der im Sandkasten steckte, und glitt damit erfolgreich die Rutsche hinunter (S. 11).

Frage: Hat der Rabe wissenschaftlich gedacht? – Antwort offen lassen.

Im Weiteren das Wort „wissenschaftliche Methode“ benutzen, es aus seiner Besonderheit herausarbeiten.

Zwei Fragen unterscheiden

Typische Fragen in der Schule sind solche, für deren Beantwortung man Wissen hinzuziehen muss (wann lebte Friedrich der Große? Welche statischen Normen gelten für zweigeschossige Wohnhäuser? – Wissensfragen). Es gibt aber auch Fragen, deren Beantwortung erfordert, dass man etwas untersucht (Was verdunstet schneller, Wasser oder Benzin? Kann diese Schnur 50 kg tragen? – Untersuchungsfragen).

Einige Wissensfragen waren irgendwann einmal Untersuchungsfragen. So wie die Belastbarkeit einer Schnur untersucht werden kann, so mussten auch die Belastungsgrenzen von Wohnhäusern untersucht werden, damit Normen gesetzt werden konnten. Der Unterschied ist also nicht prinzipieller, sondern praktischer Art (Erreichbarkeit von Untersuchungsmöglichkeiten bzw. Lösungswissen). Die Unterscheidung ist für die weitere Entwicklung von methodischem Denken dennoch grundlegend. Das Feld der wissenschaftsmethodischen Arbeit hat einen Schwerpunkt bei den Untersuchungsfragen.

Fragen finden

Ausgestattet mit dieser Unterscheidung wird eine Sammlung von Fragen organisiert, die laufend ergänzt wird, der Fragenspeicher, – etwa an einer Pin-Wand, die nach Wissens- und Untersuchungsfragen aufgeteilt wird. Die Sammlung von Fragen, insbesondere von Untersuchungsfragen, erhält im Weiteren einen hohen Stellenwert; alle Einfälle sollten spontan, auch während des Unterrichts, in den Fragenspeicher gebracht werden.                          

Einen Anstoß zum Fragen finden kann die Präsentation von ungewöhnlichen Gegenständen geben. Auf einem Tisch liegen elektrische Bauteile, skurrile Muscheln, interessante Steine, ungewöhnliche Lebensmittel, der Knochen eines Tieres … Jeder Schüler wählt einen Gegenstand,  untersucht ihn und trägt seine Erkenntnisse in ein vorbereitetes Blatt ein (Blatt 1, die Blätter der Schüler in persönlichen Ordnern sammeln).  Wichtigster Teil dieses Blattes: So viele Fragen, wie möglich über den Gegenstand aufschreiben und auf der rechten Seite eintragen, auf welchen Wegen man Antworten finden könnte.

Einige Blätter sollten in der Gruppe vorgestellt werden. Dabei werden als Wege vor allem Bücher, Internet, Lehrer und Eltern genannt werden; manchmal aber auch Vorschläge, was man tun kann (Untersuchungsfragen). Die Schüler können für einige Vorschläge erwägen, ob die Wege erfolgversprechend sind. Dazu können erste Quantifizierungen erforderlich werden.

Beispiel: Gegenstand eine Kartoffel. Frage: Ist es möglich, in einer Stadtwohnung Kartoffeln zu ziehen? Antwort trivial: Ja. Antwort als Untersuchungsfrage: Eine Pflanzkartoffel erhält einen Blumenkübel von 10 l Volumen mit Gartenerde. Ab wievielen geernteten Kartoffeln will ich den Anbau als Erfolg ansehen?

Um die Fragen möglichst produktiv zu stellen, können Formulierungsalternativen eingeübt werden (Blatt 2).

  • Ist es möglich, Klebstoff herzustellen, der unter Wasser hält?
  • Wenn ich vergleiche Sonnenblumenkerne und Grassamen, welche werden eher keimen?
  • Was geschieht, wenn ich Essig und Backpulver in einen Luftballon fülle?
  • Wie kann ich ein Schiffchen bauen, das 300 Gramm trägt?
  • Was ist die Lebenszeit eines Mehlwurms?
  • Was kann ich tun, damit die Henne mehr Eier legt?

 

Texte lesen

Auch für ältere Schüler sind kurze, eingängige, gut bebilderte Sachbücher geeignet (z.B. das Buch über Tornados von Stephen Kramer). Wünschenswert sind geleitete Buchzusammenfassungen oder Vorstellungen auf Buchkonferenzen (geleitet durch Formblätter, die die wichtigen Kriterien in eine Reihenfolge bringen, vgl. Blatt 4). Immer sollte das Lesen auch Untersuchungsfragen anregen. Bücher sollen die Fragensammlung weiten.

Auch der Lehrer kann vorlesen und dabei laut denken. Er „modelliert den Weg, wie ein Leser das Gelesene verarbeiten könnte“ (Pearce, S. 16). Er erwähnt die Fragen, die ihm durch den Kopf gehen, er könnte sogar während des Vorlesens zum Fragenspeicher gehen und sie aufschreiben.

Auch die Schülerberichte der vorangehenden Gruppen können Lektüre für die danach Arbeitenden sein. Sie sollten in einem Archiv zur Verfügung stehen. So können die Schüler lesen, wie andere an das Problem herangegangen sind, das ich gerade beschäftigt.

Untersuchungen

Im Verlauf der ersten Wochen erhärtet sich der Sprachgebrauch, dass jeder Schüler „ein Wissenschaftler sei“, also Fragen ausdenkt,  Untersuchungen durchführt und versucht, seine Annahmen zu prüfen. Das geht jetzt über in praktisches Arbeiten.

Zum Gelingen ist wichtig, dass jeder Schüler individuell reagieren kann. Mit Beginn des WiB-Labors werden daher individuelle Stärken und Bedürfnisse bestimmt, so dass die Untersuchungen so flexibel geplant werden können, dass sie für jeden Schüler Möglichkeiten bieten. Diese Bestimmung erfolgt vor allem durch individuelle Beobachtungsprotokolle und Erfahrung des Lehrers mit jedem Schüler.

 Zum Einstieg – Magneten

Materialien zum Spielen vorhalten: Heftklammer, Metallringe …

Vorgeschlagene Fragen:

  • Prüfe die verschiedenen Magnete. Welchen hältst du für den stärksten? Wie kannst du das herausfinden?
  • Wieviele Büroklammern kannst du mit einem Magneten aufnehmen?
  • Füge zwei Magneten zusammen. Was meinst du, wieviel Büroklammern können beide zusammen aufnehmen? Wie ist das bei dreien?
  • Schiebe zwei oder mehr Ringmagnete über einen Bleistift. Was beobachtest du?

Weitere Empfehlungen

Besondere Perlen

Die Schüler erhalten die Aufgabe, von einer Kordel 20 cm abzuschneiden, vier Perlen darauf zu ziehen und die Kordel zu verknoten. Aufgabe: Beobachtet die Perlen. Wenn sich nichts ergibt, kann normaler Unterricht weiterlaufen.

Bei Pearce war es so: Eine ruft plötzlich: Wenn man die Perlen schüttelt, dann verändern sie ihre Farbe. In der Tat waren seine Perlen rot, rosa und gelb, statt wie anfangs weiß. Ein Anderer versuchte es ebenfalls, mit der gleichen Wirkung. Bald klickten in der ganzen Gruppe die Perlen. Es gab aber Schüler, bei denen die Wirkung nicht eintrat. Sie saßen auf der dem ersten Schüler gegenüberliegenden Seite.

Den enttäuschten Schülern wurde versichert, dass ihre Perlen die gleichen seien, sie sollten Geduld haben. Am Nachmittag wurde die tatsächliche Ursache entdeckt: Als die Schüler sich außerhalb der Räume aufhielten, entdeckten sie, dass nicht das Schütteln zu dem erhofften Effekt führte, sondern das Licht. In der geschlossenen Hand waren die Perlen weiß, in der offenen verfärbten sie sich. Es handelte sich um UV-sensitive Perlen, die im Klassenraum auf der Sonnenseite bereits reagiert hatten, auf der schattigen Seite aber noch unverändert blieben.

Die Schüler lernten, dass die Zuordnung einer Wirkung zu Ursachen unsicher sein kann und immer überprüft werden muss. Danach gab es Untersuchungen für mehrere Wochen. Die Perlen wurden im Schwimmbad unter Wasser gehalten, um festzustellen, wie tief die UV-Strahlen drangen; das Sonnenlicht wurde gefiltert, um herauszufinden, wie die UV-Strahlen unwirksam gemacht werden könnten; Sonnencreme wurde aufgetragen, um die Wirksamkeit zu testen.

Weitere Vorschläge    

Bootbauen

Materialien: kleine Steinchen (Katzenstreu), ton, Aluminiumfolie, Strohhalme, Holzspachtel, Gummibänder, Schwämme in kleinen Streifen; außerdem Gegenständ, die als Fracht genutzt werden können: Münzen, Murmeln uw.

Als erste Aufgabe erhalten die Schüler:

  • Baue ein Boot (aus Ton, Aluminiumfolie und anderen Materialien).
  • Wähle eine Last aus.
  • Denke darüber nach, wie und wo du die Last auf das Boot lädst. Mache eine Probefahrt.
  • Gegebenenfalls: Verbessere dein Boot mit dem Ziel, dass es mehr Fracht bewältigen kann.

Wenn du so weit bist, dann kannst du größere Herausforderungen annehmen.

  • Baue ein Boot, für das du nur folgende Materialien verwendest: bis zu 6 Strohhalme, 6 Spachtel, 6 Gummibänder
  • Probiere, wie viel Last das Boot bewältigen kann. Wiege die Last.
  • Wenn du das schaffst, darfst du deinen Namen in das Verzeichnis „Hall of Fame“ eintragen; schreibe dazu, wie viel Fracht du untergebracht hast (Blatt 5).

Kugelrampen

Materialien: längs halbierte Papprollen von Toilettenpapier, Küchen- und Geschenkpapierrollen, dazu Tucker, Klebeband. Stoppuhr

Die Rampen sollen so konstruiert werden, dass die Kugeln (Pingpong-Bälle, Murmeln …) möglichst lange brauchen

Strukturen

Materialien: Zahnstocher und eingeweichte Bohnen (die beim Trocknen viel Stabilität geben)

Die Schüler bauen Häuser, Brücken, Türme. Die Herausforderung besteht darin, Unterstützung für Gewichte von 1 bis 3 Pfund zu erreichen.

Nach den ersten Übungen können die Schüler ihre selbständige Untersuchungshaltung vertiefen, indem sie in Entdeckungsboxen arbeiten, allen oder in sehr kleinen Gruppen. Entdeckungsboxen enthalten Materialien zu einem bestimmten Thema, Bücher (gegebenenfalls auch ein Ordner mit den Berichten von früheren Nutzern der Box), einen Berichtsbogen – keine Arbeitsanweisung. Einige Tage vor Nutzung der Boxen wählen sich die Schüler einen Bereich – z.B. Mehlwürmer. Sie sind ein ideales Untersuchungsobjekt: widerstandsfähig, harmlos, zeigen vier Entwicklungsstufen (Ei, Larve, Puppe, Wurm). Sie sind billig und leicht zu bekommen. Die können in einem Behälter mit trockenem Holzmehl gehalten werden (hin und wieder Apfelschnitze für den Feuchtigkeitsbedarf geben). Gut gehalten vermehren sich Mehlwürmer während eines Schuljahres über mehrere Generationen.

Fragebeispiele zum Einstieg

  • Bevorzugen Mehlwürmer Licht oder Dunkelheit?
  • Welche Nahrung nehmen sie zu sich?
  • Wie lange dauern die Entwicklungsstufen von Mehlwürmern?
  • Kann man Mehlwürmern etwa beibringen?
  • Was tun Mehlwürmer, wenn sie auf ein Hindernis treffen?

Wenn die ungeleitete Zeit in den Entdeckungsboxen zu Ende geht, muss aufgeräumt werden. Hierfür ist ein Plan für das  Boxenmanagement wichtig. Die Schüler müssen erwarten, dass jede Box angesehen wird. Eine kleine Gruppe von Schüler erhält diesen Auftrag, sie hat die Aufgabe, Schüler gegebenenfalls in ihre Box zurück zu rufen. Auch die Notiz, welche Materialien nachgefüllt werden müssen, gehört dazu. 

Nach dem Aufräumen folgt die Nachbereitung. Die Kinder sitzen fast immer auf den „falschen“ Plätzen, weil sie mit den anderen aus ihrer Gruppe zusammen bleiben. Sie haben die Boxenunterlagen, eventuell Notizen und die Produkte aus ihrer Arbeit vor sich. Jede Gruppe berichtet kurz, was getan und erreicht wurde. Das hat den Vorteil, dass die Schüler abstrahieren und verbalisieren müssen, Herausforderungen, die zu Weiterverarbeitung und Gedächtnissicherung beitragen; der Vergleich mit der eigenen oder einer sonstwie bekannten Arbeit kann zu Anregungen und Wortwechseln unter Experten führen.

Nach der Vorstellung ihrer Ergebnisse folgt der Eintrag in die Berichtshefte. Dazu kann Formblatt 6 benutzt werden. Für die Schüler ist der Eintrag die Dokumentation ihrer Erfolge, die im Archiv für weitere Schüler mit ähnlicher Frage auffindbar bleibt. Für den Lehrer ergeben sich Möglichkeiten, das Denkverhalten der Schüler zu analysieren, um weitere Aufgaben noch flexibler anzupassen.

Wichtig ist die Qualität der Fragen. Führen sie zu bedeutsamen Untersuchungen? In der frühen Phase der Arbeit kann es passieren, dass die Fragen zu dünn sind und mit einfachem „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten sind. Durch Unterstützung bei der Fragenformulierung, durch direkte Anweisung oder durch Beispiele von anderen Schülern kann die Frageweise der betreffenden Schüler zu mehr Komplexität entwickelt werden. Aber nicht nur die Fragen geben Auskunft über ihre Qualität, sondern auch die Untersuchungsergebnisse. Zu erkennen, wohin eine Frage den Schüler führt, ist der wesentliche Test der Fragenqualität.

Mehr Freiheit für Untersuchungsfragen

Erfahrung in den Entdeckungsboxen bereiten die Phase vor, in der die Schüler selbst Fragen entwerfen und voraussehen, welche Materialien sie für ihre Untersuchungen benötigen werden (Blatt 7). Nun geht es auch in das Umfeld der Schule, die Schüler können selbständig arbeiten und werden nach Vereinbarung vom Unterricht für eine vereinbarte Gesamtzeit freigestellt. Dazu wird ein Vertrag geschlossen, den neben dem Schüler auch der Lehrer und die Eltern unterzeichnen (Blatt 8). Die Krönung der Arbeit bestehen in Berichten über wissenschaftliche Antworten/Entdeckungen (Blatt 9).

Alle Texte werden in einem Archiv verwaltet, so dass über eine große Menge von interessierenden Fragen Berichte zusammen kommen, die nachfolgende Schüler nutzen können. Dabei ist die Strukturierung als Formblatt nicht nur eine Hilfe für die Schüler, die noch nicht von allein ein zu einer systematischen Textentwicklung finden würden; die Strukturierung hilft auch zur systematischen Informationsentnahme; Nutzer des Archivs können nach den interessierenden Punkten suchen.

Ein Beispiel für Untersuchungen außerhalb der Schule: Die Suche nach einem natürlichen Antibiotikum (Blatt 11).

Pearce macht zu seinem Unterricht zwei wichtige Anmerkungen:

  1. 63 „Wissenschaftliches Arbeiten umfasst weit mehr als lediglich Materialien und Bücher zu bieten. Es erfordert Vorbereitung. Die Kinder, obwohl von Natur aus Wissenschaftler, müssen den Prozess der Wissenschaft verstehen. Es ist verpflichtend, dass sie Wissenschaft als einen systematischen und logischen Weg zu Wissenserweiterung und Begreifen sehen. Sie müssen fähig sein, Verbindungen herzustellen, Muster zu bemerken und solche Fragen zu stellen, die zu bedeutsamen Untersuchungen und Entdeckungen führen. Wissenschaftliches Arbeiten ist nicht Teil des fachlichen Curriculums.“
  2. 131 „Nach den “National Science Education Standards” des “National Research Council” soll bei der Leistungserbringung der Schüler weniger Aufmerksamkeit auf das einzelne wissenschaftliche Wissen und damit auf das, was Schüler nicht wissen, gerichtet werden; die Standards empfehlen, erhöhte Aufmerksamkeit auf das, was wirklich zählt, das wissenschaftliche Denken und Verstehen, zu richten. Diese Kompetenz bestimmt letztlich, was die Schüler verstehen. Nachdruck sollte darauf gelegt werden, dass die Schüler in fortgesetzte Prüfung ihrer eigenen Arbeit und der Anderer eingebunden werden.“

Sehen wir uns jetzt die Enrichment-Stufen von Renzulli  – einem der bekanntesten und weithin geschätzten amerikanischen Modell der Hochbegabtenförderung  –  an, dann sehen wir, dass Pearce mit seinem Forschungsunterricht die Stufe 1sehr gut ausfüllt und den Übergang zu Stufe 2 auf erlebnishafter Ebene vorbereitet. Diese Stufe 2 ist das Kritische Denken als Lerngegenstand.                                                                                                                                                                            

Typ I – Erfahrungen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler in Gebieten, die üblicherweise nicht im Curriculum enthalten sind. Lebensweltliche Situationen, in denen Kinder mit Bereichen zusammengebracht werden, die sie verstehen, untersuchen und bei denen sie mitmachen können. Häufig wird Projektunterricht so organisiert, dass er ganz auf dieser erlebnishaften Ebene bleibt. Wichtig ist, dass hier keine formelle Instruktion stattfindet. Das Ziel ist die Begegnung mit Konkretem und Interessebildung.

Typ II – Übungen, die die Entwicklung der Denkfähigkeit und der Gefühle unterstützen. Hier stehen nicht die Inhalte im Vordergrund, sondern sie werden zu austauschbaren Anlässen des kognitiven Arbeitens, bei dem bestimmte kognitive Handlungen benannt und eingeübt werden, so dass sie willentlich, kontrolliert und zielgerichtet eingesetzt werden können.

Type III – Individuelles oder in Kleinstgruppen durchgeführtes Forschen, bei dem Schülerinnen und Schüler methodisch professionell handeln können. Typ III fordert überdurchschnittliche Fähigkeiten, Aufgabenzuwendung und Kreativität. Forschendes Lernen oder Facharbeiten gehen in Deutschland in diese Richtung, entbehren aber der in Typ II angelegten spezifischen Vorbereitung.